Es ist eine schöne Geschichte und eine schön verzwickte Geschichte dazu, die Siegfried Maaß im ersten der fünf Deals der Woche zu erzählen hat, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 26.04.19 – Freitag, 03.05.19) zu haben sind. Mäxchen und Pauline – so auch der Titel seines Buches – lernen sich kennen und finden Gefallen aneinander. Und wie es der literarische Ein- und Zufall will, sind die jeweiligen Elternhäuser nicht komplett, sondern frisch getrennt. Und so kommt es, wie es kommen kann – aber mehr dazu in „Mäxchen und Pauline“ von Siegfried Maaß.

Mit gleich zwei Titeln ist in diesem Newsletter Rudi Czerwenka vertreten: In „Wo Kapitäne geboren wurden“ zeichnet er die spannende Geschichte der Seefahrtschule Wustrow nach – bis zu ihrem eher unrühmlichen Ende nach der Wende. In „Von Boltenhagen nach Ahlbeck“ nimmt der Autor Zugezogene, Touristen und andere Neulinge mit an die Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern.

Pierre“ – so lautet der Titel des Buches von Rudi Benzien, das in den 1970er Jahren in Frankreich spielt. Ein durchaus politisches Buch.

Mit einem der bekanntesten Hitler-Attentäter und seiner Zeit setzt sich Hans Bentzien in seiner Biographie „Claus Schenk Graf von Stauffenberg“ auseinander. Dieses aufschlussreiche Buch beschließt den heutigen Newsletter. Und damit zurück zum Anfang und zu Mäxchen und Pauline – und zu ihren Familien.

Erstmals 2015 erschien bei der EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book das Buch „Mäxchen und Pauline“ von Siegfried Maaß: Ganz zufällig begegnen sie sich – Mäxchen und Pauline. Er kommt von Herrn Berger, der ihm hilft, seine Angst vor dem Mathemonster zu überwinden. Sie hat bis soeben mit dem Fußball das Toreschießen trainiert, denn sie möchte einmal in einer richtigen Mannschaft spielen. Bei diesem überraschenden Zusammentreffen kommt Pauline die Idee, den fremden Jungen zu ihrer Geburtstagsparty einzuladen, denn sie wird bald zehn und Mädchen wollen mit der Verrückten, die Fußball spielt, nichts zu tun haben. Erfreut stimmt Mäxchen zu, denn das Mädchen gefällt ihm. Aber seine Mutter möchte erst einmal Paulines Eltern kennenlernen. Doch da ist nur ihr Papa, denn ihre Eltern sind getrennt. Genau wie Mäxchens Eltern. Auf diese Weise nimmt unsere Geschichte einen unerwarteten Verlauf, denn auch die beiden Erwachsenen gewinnen Gefallen aneinander, sodass der Geburtstagsparty nichts im Weg steht. Wenn da nicht Kakasie gewesen wäre, Herrn Bergers Kakadu. Den bringt Mäxchen zur Party mit, weil Herr Berger krank geworden ist. Aber mitten in der schönen Party bricht Kakasie aus seinem Käfig aus und sorgt für große Verwirrung. Diese setzt sich in der folgenden Zeit auf andere Weise fort, bis schließlich alles zu einem guten Ende führt und Mäxchen und Pauline ein merkwürdiges Weihnachtsfest feiern, an das sie sich immer erinnern werden. Aber bis dahin dauert es noch eine Menge Buchseiten lang. Eine gar nicht so lange Zeit nach dem Anfang und nach der Bekanntschaft mit Mäxchen lernen wir auch Pauline kennen – was man allerdings wohl nicht auf den ersten Blick erkennt:

„Es ist Pauline, die sich den großen Hinterhof für ihre Ballübungen ausgesucht hat.

Vielleicht würde Mäxchen sogar glauben, es wäre ein Paul. Denn sie steckt in einer blauen Trainingshose, die gut und gerne sogar seine eigene sein könnte. Mit einem roten Streifen an beiden Außenseiten. Irene hatte gelacht und gesagt, nun sehe er wie ein General aus. Deren Uniformhosen würden solche Biesen zieren.

Nun spielt also ein kleiner General auf dem Hof Fußball. Seine Uniform wird von einem T-Shirt vervollständigt. Eigentlich sollte es wohl weiß sein und ohne alles. Aber die runden Tupfen des Fußballs haben für ein dunkles Muster gesorgt.

Ganz ungleichmäßig verteilt, sodass darin kein Sinn zu erkennen ist.

Mäxchen könnte dann einen blonden Haarschopf wahrnehmen, der an eine Bürste denken lässt. So kurz und stachelig ist ihr Haar.

Pauline schmückt sich auch nicht wie andere zehnjährige Mädchen, weder mit einer Halskette noch mit einem Fingerring. Ihre Fingernägel sind nicht rot oder blau oder grün gefärbt. ihre Knie zeigen dafür Schorf und offene Risse, die jetzt unter der Generalshose versteckt sind. Das kommt vom dauernden Klettern (und Fallen), weil kaum ein Baum vor ihr sicher ist. Egal welcher oder wo sie ihn findet. In einem Garten oder an der Landstraße.

Das ist außer dem Fußballspielen ihr liebster Spaß. Deshalb will auch keine Klassenkameradin ihre beste Freundin werden. Sie weiß, dass sie sich dafür etwas ausdenken muss. Zu ihrem 10. Geburtstag will sie jedenfalls eine Party geben. Davon weiß nur ihr Papa noch nichts. Und wenn sie eben mal nicht an ihren Ball tritt, überlegt sie, wie sie es ihm schonend beibringen kann.

Pauline kennt Mäxchen bereits, weil sie ihn oft gesehen hat, wenn er in das Haus auf dem Hügel gegangen ist. Aber sie weiß nicht, wen er dort besucht. Vielleicht seinen Opa? Denn er kommt dann jedes Mal bald wieder heraus und geht zu Bäcker Brösel und anschließend zum Kiosk.

Ihm zu folgen und ihre Neugier auf diese Weise zu befriedigen, hat sie bisher nicht fertig gebracht. Ihr Papa mag es nicht, fremde Leute zu beobachten und hält Neugier für keine gute Eigenschaft. Danach richtet Pauline sich. Dass ihr Papa es aber ebenfalls nicht mag, wenn sie ihre Schuhe beim Fußballspielen ‚zerschleddert’, vergisst sie gern. Er bemerkt es erst immer, wenn er ihre Schuhe abends neben der Tür stehen sieht. Dann stöhnt er nur und schüttelt den Kopf, als sei er sehr enttäuscht. Doch schon im nächsten Augenblick muss er an andere wichtige Dinge denken, sodass er vergisst, mit seiner Tochter zu schimpfen. Er muss einkaufen und Geschirr spülen, die Waschmaschine füttern und für Pauline kochen. Manchmal fragt er sie auch nach ihren Hausaufgaben. Aber er muss sich darüber keine Gedanken wie Irene um Mäxchens Hausaufgaben machen.

Paulines Papa hat Arbeit in der Stadtgärtnerei gefunden. Darum ist er mit seiner Tochter in die große Stadt an der Wuhne gezogen. Pauline weiß aber, dass sie die kleine Stadt auch verlassen haben, um nicht mehr ihrer Mutter zu begegnen. Nun fährt Pauline zweimal im Monat zu ihr. Dann wird das Wochenende jedes Mal sehr lang. Zuletzt hatte sie darum ihren Ball mitgenommen und war damit gleich nach dem Mittagessen auf die Straße gegangen.

Sie suchte sich ein Garagentor und übte sich im Elfmeterschießen.

Bald haben sich einige der Alten aus ihren Fenstern gelehnt und gerufen, dass sie aufhören solle, ihren Ball zu knolzen. Ruhe störenden Lärm, nannten sie, was Pauline mit ihrem Ball veranstaltete. Dann rief noch einer mit heiserer Stimme: „Ich beschwere mich bei deiner Mutter! Dann warst du die längste Zeit hier! Oder ich rufe die Polizei!“

Pauline hätte nichts dagegen gehabt, wenn er sich tatsächlich beschweren würde. Oder auch die Polizei rufen. Vielleicht brauchte sie dann nicht mehr diese langweiligen Pflichtbesuche zu machen?

Jedes Mal kommt sie sich nämlich wie eine Besucherin vor, die nur darauf wartet, bald wieder abreisen zu können. Sie langweilt sich, wenn sie nur herumsitzt. Immer soll sie dann bei der Mutter in der Küche sein und zusehen, wie deren flinke Hände Kartoffeln schälen oder das Fleisch klopfen. Weil es natürlich etwas Besonderes geben soll, wenn sie zu Besuch ist. Als wenn sie zu Hause bei ihrem Papa nur Brot und Wasser bekommen würde! So denkt Pauline. Oder sie lümmelt im Wohnzimmer vor der Mattscheibe.

Ihre Mutter kann es nicht unterlassen, von Paulines Papa schlecht zu reden, weil er lange Zeit ohne Arbeit gewesen ist. Sie meint, er sei zu faul gewesen, um sich ernsthaft zu bemühen. Dann läuft Pauline immer schnell aus der Küche, denn das will sie nicht hören. Einmal ist sie sogar vom Tisch aufgestanden, hat den Stuhl umgeworfen und die Wohnung verlassen. Am liebsten hätte sie im Wartehäuschen auf den Abendbus gewartet. Auch ohne ihren Rucksack. Auf das bisschen Wäsche und die Zahnbürste konnte sie gut verzichten.

Doch dann kam ihre Mutter angerannt, fast atemlos und noch mit vorgebundener Cocktailschürze. So vornehm ist sie nämlich.

Sie konnte gar nicht begreifen, weshalb ihre Tochter geflüchtet war.

Pauline sagte es ihr. Ihr Papa ist nicht faul. Das weiß sie ganz genau.

Jeden Morgen steht er zeitig auf und bereitet ihr das Frühstück, ehe er das Haus verlässt, um in der städtischen Gärtnerei zu pflanzen. Oder zu graben. Oder zu mähen. Das macht er alles. Und im Frühjahr die zarten Pflänzchen pikieren. Auch muss er Bäume beschneiden. Wenn er davon spricht, bekommt Pauline jedes Mal gleich eine Gänsehaut. Weil sie glaubt, dass es den Bäumen Schmerzen bereiten muss, wenn die Säge ihnen Äste abschneidet. Sie denkt dann an ihren Arm und stellt sich vor, wie stark die Schmerzen sein müssen, wenn man ihn abtrennt.“

Erstmals 2003 veröffentlichte Rudi Czerwenka im Scheunen Verlag Kückenshagen die Historiografie „Wo Kapitäne geboren wurden. Zur Geschichte der Seefahrtschule Wustrow“: Der ehemalige Seefahrer und spätere Dorfschullehrer in Althagen bei Ahrenshoop Johann Christian Cyrus legte Anfang der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts im Fischländer Ort Wustrow die Grundlagen für einen Unterricht in Navigation, Nautik und Schiffskunde. Es sollten jedoch noch mehrere Jahrzehnte ins Land gehen, ehe der Wustrower August Christian Samuel Galle diesen Unterricht fortführte. Doch erst der einheimische Steuermann Nicolaus Permien erkannte, wie notwendig es war, den werdenden Seefahrern einen ständigen und qualifizierten Unterricht zu erteilen. Er begann 1813 mit nautischen Winterkursen und gilt als der eigentliche Begründer der Seefahrtschule Wustrow, die mehrere Generationen von Schiffsoffizieren, Nautikern und Kapitänen schmiedete. Der Autor beschreibt anschaulich die Geschichte dieser berühmten Schule an der ostdeutschen Ostseeküste, die nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik geschlossen wurde. Hier ein Blick auf die Anfänge der „Kapitänsschmiede“:

„Die Initiativen zur Gründung der Wustrower Schule waren von acht einheimischen Schiffern ausgegangen, wenn auch zunächst nur auf eine Teillösung gerichtet. In ihrer Petition an den Großherzog baten sie lediglich um die einjährige Verlängerung ihrer Volksschule mit zusätzlichen Unterrichtsfächern, „… als wir oft mit anderen Nationen in Berührung kommen und wir bedauernd wahrnehmen müssen, wie weit wir als Mecklenburger noch gegen sie zurück sind.“ Dabei ging es ihnen besonders um zusätzliche Fachkräfte für Englisch und Französisch, für Geometrie, Algebra und kaufmännisches Rechnen.

Dieser Brief vom Januar 1845 ging den vorgeschriebenen Weg, also zunächst an den damaligen Ribnitzer Amtshauptmann Koppe, der ihn mit einem umfangreichen, geschickt formulierten Begleittext versah und derart ergänzt weitergab. „Fischland erfreuet sich jetzt einer Flotte von etwa 200 Kauffahr-Schiffen … Diese haben ebenso viele Steuerleute und gewiss 6 bis 700 Matrosen.“ Sie „erhalten die Kunde der Schiffsführung usw. in den beiden Navigationsschulen der Lehrer Voß und Permien.“ Diplomatisch bezog sich Koppe auf die Vorliebe des Fürsten für sein Fischland bzw. auf die dort erzielten Steuereinnahmen und auf die Abneigung Schwerins gegenüber Rostock, um „nirgendwo anders als auf dem Fischland seemännischen Unterricht zu ertheilen.“ Doch auch Koppe ging nicht über das hinaus, was die Wustrower Schiffer in ihrem Schreiben anstrebten.

Der Hof reagierte schnell. Koppe und der Ludwigsluster Schulrat wurde auf Inspektionstour ins Fischland geschickt. Ihr neuer Bericht ging weit über das bisher Vorgeschlagene hinaus. Beide sprachen sich nunmehr für eine eigenständige Navigationsschule aus, für einen entsprechenden Neubau mit Klassenräumen und einem Observatorium, sogar für eine spätere Fachausbildung der Navigationslehrer.

Der Großherzog war einverstanden, schwankte allerdings zwischen Wustrow und Ribnitz als Domizil für „seine“ künftige Schule, verlangte außerdem die finanzielle Beteiligung der Bevölkerung am betreffenden Standort. Ribnitz brachte sich hierbei selbst um seine Chance. Die Bürger der stillen Kleinstadt und die Damen des adligen Damenstiftes waren sich ausnahmsweise mal einig. Es ging ihnen weniger um das Geld, das aufzubringen war. Aber sie fürchteten eine unerwünschte Lärmbelästigung durch die dann zu erwartenden Seeleute mit ihren rauen Sitten.

Auch die Wustrower und das gesamte Fischland waren sich einig, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Sparsam war man hier zwar schon immer und hatte es auch dadurch zu einem beachtlichen Wohlstand gebracht. Doch nun ging es nicht mehr um eigene Vorteile, um Geld für neue Partenanteile oder für eine zusätzliche Ausbildung. Man sammelte für die Schule, Taler um Taler, von Haus zu Haus, und brachte die vom Großherzog geforderte Summe, immerhin die Hälfte der gesamten Baukosten, zusammen.

Bei der Bildung eines Kuratoriums für die Navigationsschule gab es dagegen Probleme. Der von Koppe als Beiratsmitglied vorgeschlagene Dorfpastor war mit der Berufung des aus Danzig herbeigeholten Navigationslehrers E. F. Schütz einverstanden, verweigerte aber seine Zustimmung, als ein Einheimischer als Sprachlehrer nominiert werden sollte. Dann stritt der unfromme Seelenhirt um Termine und Örtlichkeiten für eine Eröffnungsfeier. Das setzte sich fort, bis man schließlich seiner überdrüssig wurde und ihn von seiner Funktion enthob. Das Kuratorium bestand, als es schließlich seine Arbeit zur Reglementierung und Regulierung des Betriebs der Seefahrtschule aufnehmen konnte, nur noch aus Amtshauptmann Koppe und zwei see- und lebenserfahrenen Wustrower Schifferältesten.

Der Schulneubau wurde auf dem Stegberg errichtet, also mit freier Sicht auf See. „Für astronomische Beobachtungen und Berechnungen waren damit fast natürliche Bedingungen vorhanden, sodass auf Hilfsmittel wie künstlicher Horizont o.a. verzichtet werden konnte. Im Erdgeschoss waren zwei Klassen für die Schiffer- und Steuermannsschüler konzipiert, daneben drei Beobachtungsräume sowie zwei weitere Stuben für die Bibliothek und Gerätschaften. Im Obergeschoss sollten das Observatorium mit beidseitigen großen Balkons und die Lehrerwohnung eingerichtet werden. Baubeginn war 1847, die Übergabe erfolgte 1849.

Doch bis dahin hatte man nicht gewartet und den Unterricht bereits aufgenommen. Die feierliche Eröffnung der „Großherzoglichen Navigationsschule“ fand am 10. November 1846 statt. Am 16. November begann der Unterricht nach dem neuen Konzept, wenn auch noch in Ausweichs- oder Behelfsräumen.

Drei Lehrgänge bzw. drei Klassen wurden angeboten.

In der dritten Klasse erfolgte die seemännische Elementarausbildung, zunächst traditionell nur im Winterhalbjahr, obwohl die Zeiten, da die Fischländer nur Ost- und Nordsee befahren hatten und bei Eisgang pausieren mussten, längst vorbei waren. Zur Aufnahme in diese Klasse war das Schulabgangszeugnis vorzulegen, Fertigkeiten im Lesen und Nachschreiben waren nachzuweisen, eine ordentliche Handschrift, Grundkenntnisse in Algebra, Geometrie, im Bruchrechnen sowie in Geografie wurden vorausgesetzt. All das wurde in der dritten Klasse wiederholt, gefestigt und vertieft, doch darüber hinaus ging man kaum.

Der Andrang zu dieser „Vorschule" war groß. Diese dritte Klasse umfasste oft 60 bis 70 Teilnehmer, darunter nicht nur junge Seeleute oder Fahrensneulinge, die sich ehrlich weiterbilden wollten, sondern auch anderes junges Volk, das lediglich der winterlichen Langeweile entrinnen wollte. Die Lehrer hatten es entsprechend schwer. Aufgrund der Schülerzahlen wurde nicht nur in Wustrow, sondern auch in Dierhagen und Dändorf unterrichtet. Zuständig für diese Klasse waren die beiden ehemals privat arbeitenden Seefahrtslehrer Permien und Voß, die inzwischen als „Hilfslehrer“ in staatliche Dienste übernommen worden waren und besoldet wurden. Der Navigationslehrer Schutt hielt in dieser Vorbereitungsklasse keinen Unterricht, er führte lediglich die Aufsicht.

Wer sich in der dritten Klasse bewährt hatte, tatsächlich weiterkommen wollte und sich dafür gewappnet glaubte, durfte sich um die Aufnahme in die zweite Klasse bewerben. Hier saßen im Durchschnitt nur etwa zehn Matrosen, um sich auf die Prüfung zum Steuermann vorzubereiten. Hier unterrichtete Schütt persönlich. Voraussetzungen waren ein Mindestalter von 20 Jahren und eine nachzuweisende Fahrtzeit von 45 Monaten, davon 18 Monate als Vollmatrose. Der Lehrgang dauerte ein Jahr, begann im Januar, enthielt vier Wochen Sommerferien und endete mit den Prüfungen im Dezember. Der bisherige Elementarunterricht wurde weitergeführt, besonders in Mathematik jedoch spezialisiert und durch eine recht umfangreiche Ausbildung in Navigation ausgebaut. Allein dieses letztgenannte Fach umfasste nach dem vom Kuratorium aufgestellten „Regulativ für die Steuermanns- und Schifferprüfungen“ 23 Teilgebiete.

Die erste Klasse schließlich diente der Vorbereitung auf die Schifferprüfung und war, abgesehen von Wissens- und Erfahrungsvermittlung über Schiffstakelung, über Havarieverhalten und kaufmännische Probleme, in den ersten Jahren der Wustrower Seefahrtsschule lediglich eine Fortsetzung der bisherigen nautischen Ausbildung. Die Aufnahmebedingungen jedoch waren andere. Der Bewerber musste die Steuermannsprüfung sowie eine zweijährige Fahrenszeit in dieser Funktion nachweisen und mindestens 24 Jahre alt sein. Auch hier unterrichtete in den Anfangsjahren der Schule allein Lehrer Schütt, wiederum vor einer ähnlich geringen Schülerzahl wie in der Steuermannsklasse.

Die Skala der Unterrichtsfächer wurde erst in den nachfolgenden Jahren erweitert. Schütts dringender Wunsch, Fremdsprachen zu lehren, blieb längere Zeit unerfüllt. Ein weiterer Bewerber war ebenfalls abgewiesen worden, aber nicht durch den Pastor, sondern durch den Landesfürsten. Der niederdeutsche Dichter John Brinckman hatte sich gemeldet, auf seine während einiger Seefahrten gesammelten Erfahrungen und vor allem auf seine in Übersee erworbenen Sprachkenntnisse verwiesen. Der Großherzog jedoch übersah diese Qualifikation, erinnerte sich dagegen genau an Brinckmans demokratische Allüren in den vorrevolutionären Jahren und lehnte ab. Später jedoch wurde auch in Wustrow Englisch und Französisch gelehrt.

Mit nochmaliger Verzögerung folgte sogar die Einführung einer Wochenstunde mit medizinischen Unterweisungen, die sogenannte „Doktorstunde“. Auch ein Fachunterricht zum Thema Wirtschaftswissenschaften wurde eingeführt. Das alles wurde jedoch erst dann möglich, als die Seefahrtsschule bereits in ihrem neuen Gebäude untergebracht war und dort kontinuierlich, zukunftsgerichtet arbeiten konnte. Das Niveau der Ausbildung sprach sich herum, die Schülerzahlen wuchsen. Die politische Entwicklung, die Gründung des Norddeutschen Bundes leisteten ihren speziellen Beitrag. Bis in die sechziger Jahre verließen 271 Patentträger die Schule am Stegberg, bis 1870 erhöhte sich die Zahl auf insgesamt 628.“

Erstmals 2009 druckte der BS-Verlag Rostock „Von Boltenhagen nach Ahlbeck. Mecklenburg-Vorpommerns Ostseeküste. Geschichte und Geschichten für Zugezogene, Touristen und andere Neulinge“ ebenfalls von Rudi Czerwenka: Die Texte für dieses Buch entstanden auf der Basis umfangreicher Recherchen im Auftrag des damaligen Gewerkschaftsverlages Tribüne in der Zeit vor 1989 und sollten den Urlaubern das Land an der damals schon sehr beliebten Ostseeküste ein wenig näherbringen. Die Ereignisse der Wendezeit und der nachfolgenden Jahre verhinderten die Vollendung dieser Pläne. Inzwischen hat sich nicht nur das Profil der Feriengäste verändert. Dennoch hat der Autor die vor drei Jahrzehnten entstandenen Texte so gelassen und nicht aktualisiert. Sie bieten also nicht nur Informationen zur Geschichte und Einblicke in den Alltag der hier beheimateten Menschen. Sie wecken bestimmt bei manchem auch Erinnerungen. Hier ein Blick nach Boltenhagen und auf die Anfänge des Fremdenverkehrs:

Als die große Flut kam. Boltenhagen und die Sturmflut von 1872

In einem sanften, weiten Bogen öffnet sich die Bucht zum Meer. Feiner weißer Sand zeichnet den Ufersaum von der östlichen flachen Landzunge bis zum westlichen Steilufer. Weit draußen, wo das Flachwasser beginnt, brechen sich die weißen Schaumkämme der See. Mit leichten Wellenschlägen rauscht das Wasser an den Strand. Das Dünengras wiegt sich im lauen Sommerwind. Hier scheint sich nicht viel verändert zu haben in nahezu zweihundert Jahren Badebetrieb, abgesehen von den unzähligen bunten Tupfen der Badehosen und Bikinis, der Luftmatratzen und Windschützer.

Die Einheimischen zeigten damals wenig Interesse an den Fremden, den „Strandlöpers“, die um 1810 das Dörflein Boltenhagen entdeckt hatten. Die Bauern waren hörig, leisteten ihren Frondienst im nahen Wichmannsdorf und betrieben nebenbei, wenn ihnen die Zeit blieb, ein wenig Fischfang. Die Fremden wurden erst interessant nach der Einführung der Erbpacht, die zwar Freiheiten brachte, aber bezahlt werden musste. So bemühte man sich, den von Klütz, Wismar und Grevesmühlen täglich anreisenden und am Abend wieder abreisenden Gästen einiges zu bieten.

Einer der Bauern, der „Kegel-Westphal“, zeigte sich besonders ideenreich. Nicht nur seine Kegelbahn, auch seine Angebote zum Warmwasserbaden, zur Übernachtung und Beköstigung fanden bald Nachahmer unter den Nachbarn.

Bald verbrachten die Stammgäste den gesamten Sommer im Dorf. Man reiste mit eigenem Hausrat und Mobiliar an, fand Quartier und Verpflegung unter den wuchtigen Schilfdächern der Bauernhäuser, wurde aufgenommen in den Familienkreis und lebte gesünder und billiger als in der Stadt. „Up dat bäten Aeten kümmt dat bi uns nich an“, hieß es bei Westphal, „äwer dat Afbaden makt dei Sak düer.“

Das „Afbaden“ vollzog sich auf besondere Weise. Am Strand hatte man offene Hütten errichtet. Hier saßen die Badegäste und warteten, bis sie mit einem der Badekarren ins Wasser kutschiert wurden. Erst dort durfte man sich umkleiden und durch einen Leinenschirm vor Fremdsicht geschützt in die kühlenden Fluten steigen. Die Zahl der Badekarren erhöhte sich von Jahr zu Jahr ebenso schnell wie die der Gäste. Boltenhagens Gästeliste von 1871 nennt 1387 Namen. Um diese Zeit standen bereits vor jedem der etwa zehn Bauernhäuser, also westlich der von Klütz heranführenden Straße, komfortable Logierhäuser. Auf der entgegengesetzten Seite, in Richtung Tarnewitz, waren Pensionen und Hotels entstanden. Der Fremdenverkehr blühte. Schon zu Ostern waren sämtliche Sommerquartiere ausgebucht.

Nur im Winter wurde es still, dann waren die zwanzig bis dreißig einheimischen Familien unter sich. Wenn die Stürme über das Land brausten und die Wasser der grauen Ostsee sogar mal über die Dünen schwappten, war man allein. Doch man fühlte sich sicher; die Erinnerungen an die große Sturmflut von 1625 waren längst verblasst.

So blieb man auch sorglos, als Anfang November des Jahres 1872 über Tage hinweg ein starker Westwind das Wasser der Bucht immer weiter hinausdrängte. Man staunte zwar über den ungewohnt breit gewordenen Strand, kehrte dann aber, vom Sturm zerzaust und von Regenschauern durchnässt, unter die schützenden Dächer zurück. Als der Sturm am 12. November schließlich abflaute, ging man sorglos zu Bett.

Doch die Ruhezeit war kurz. Der Wind war umgesprungen und blies mit zunehmender Kraft aus Nordost. Die zuvor in der östlichen Ostsee zusammengeschobenen Wassermassen kehrten zurück, rauschten auf den Strand, überfluteten die Dünen, rissen Badekarren und Fischerboote mit sich, entwurzelten Sträucher und Bäume und schleuderten das Treibgut gegen die Häuser der schlafenden Bewohner. Fenster, Türen und die dem Wasser zugewandten Wände wurden eingedrückt, das Vieh in den Ställen brüllte, und die Menschen fanden eben noch Zeit, mit den Kindern und den wichtigsten Habseligkeiten ins Dachgeschoss zu flüchten. Binnen Kurzem war jedes Haus zu einer Insel geworden, umbraust von der tosenden See. Die Männer versuchten zu retten, was noch zu retten war, trugen Frauen und Kinder durch die Wasserwirbel irgendwohin ins Trockene, wollten das Vieh bergen, mussten sich aber angesichts des wachsenden Wasserstands bald selbst in Sicherheit bringen. Der Sturm riss die Dächer ab, und die Menschen saßen ungeschützt und durchnässt im Gebälk. Einigen gelang es, auf dem Kirchenhügelchen oder in der ebenfalls erhöht liegenden Schule Zuflucht zu finden. Doch auch hier stand das Wasser über den Dielen, umspülte Menschen und Tiere, während draußen die Flut mit dem mitgerissenem Schwemmgut gegen die Wände dröhnte. Aber der Backsteinbau hielt stand. Mit notdürftig zusammengezimmerten Flößen drangen einige Männer noch in der Nacht zu den vom Wasser eingeschlossenen, bereits schief stehenden oder teilweise eingestürzten Gebäuden vor und holten verängstigte Frauen und Kinder aus Lukenlöchern und von den Dächern, während der Sturm mit unverminderter Stärke sein Vernichtungswerk weitertrieb.

Am Vormittag des folgenden Tages entschlossen sich einig Klützer Bürger trotz des fortdauernden Unwetters nach Boltenhagen zu fahren und dort nach dem Rechten zu sehen. Die bösen Vorahnungen der Leute wurden durch die Realität übertroffen. Schon die Sandniederungen und Verlandungswiesen hinter Klütz standen unter Wasser. Totes Vieh, zerstörtes Mobiliar und Bäume trieben umher, Krähenschwärme hielten Ernte. Notfahnen flatterten von den zerstörten Häusern.

Eine Klützer Lehrerin notierte in ihrem Tagebuch: „Mein Mann und ich waren am folgenden Tag in Boltenhagen. Wir waren ganz aufgelöst von all dem Schauerlichen, was wir erlebt und ergriffen von diesem gewaltigen Naturereignis, das so mächtig und zerstörend das Leben und Eigentum der Bewohner bedroht hatte.“ Das „Rostocker Tageblatt“ berichtete: „Boltenhagen, unser so liebliches Ostseebad, ist von den hoch anstürmenden Wellen fast zertrümmert.“

Das wirkliche Ausmaß der Zerstörungen wurde erst nach der Flut sichtbar: Trümmerberge anstelle der Bauernhäuser, der neuen Hotels und Pensionen, kahles Gebälk und im Schutt stehende Mauerreste, niedergewalzte Grünanlagen, ein abgemähter Küstenwald, totes, aufgedunsenes Vieh und stellenweise eine bis zu einem halben Meter hohe Schlick- oder Sandschicht. Menschenleben waren hier jedoch nicht zu beklagen, wenn auch, wie berichtet wird, eine Familie aus dem einsamen Waldhaus zwischen Boltenhagen und Tarnewitz erst nach drei Tagen aufgefunden wurde. Alle Geretteten wurden vorübergehend in Klütz untergebracht, über Boltenhagen lag die Ruhe des Todes.

Doch die Meldungen von der Katastrophe fanden ein unerwartetes Echo, Sammlungen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, private und offizielle Zuwendungen brachten mehr ein, als zur Abwendung der größten Not erforderlich gewesen wäre. Die Spenden flossen aus Berlin, Hamburg, Schwerin und vor allem aus Klütz und Umgebung. Es scheint unglaubhaft, doch schon zu Beginn der neuen Saison stand Boltenhagen schöner, moderner und größer da und beherbergte mehr Gäste als im Jahr vor der Flut. Die Zuwendungen reichten sogar für den Bau vor Straßen und Promenaden, für die Aufforstung des Küstenwalds, für Parks und Grünanlagen. Mehrere der heutigen Ferienheime am Mittelweg stammen noch aus jener Zeit.

Die neue verlängerte und verbreiterte Düne entstand allerdings erst 1962 und 1964 im Rahmen der aufwendigen Küstenschutzbauten der damaligen Regierung; sie musste sich bereits mehrmals bewähren.

Boltenhagen war wieder Boltenhagen.

Vor einem Jahrhundert schrieb ein Gast: „Wer an die See geht, um Reunions, Konzerte, Theater zu besuchen, Tennis-Turniere mitzumachen oder seine Toiletten glänzen zu lassen, der gehe nicht nach Boltenhagen. Wer aber Ruhe und nervenstärkende Waldesstille sucht, dem mag dieser Ort empfohlen sein.“

Erstmals 1980 veröffentlichte Rudi Benzien im Verlag Junge Welt Berlin sein Frankreich-Buch „Pierre“, das naturellement von Pierre handelt: Sein Vater ist Drucker und er lebt in den 1970er Jahren in Frankreich. Zu lesen ist, wie Pierre seinem arbeitslosen Vater hilft, wie er mit Vater auf Schatzsuche geht, als Spartakus den Löwen besiegt und was er tun würde, wenn er Präsident wäre – eine aus heutiger Sicht besonders interessante Passage. Hier die Geschichte eines bemerkenswerten Fundes, von ihm selbst erzählt:

Wie ich den Schatz im Wald von Boulogne fand

Das Ganze ist schon ein paar Jahre her. Ich ging noch nicht einmal zur Schule, glaube ich. Uns ging es damals nicht sehr gut.

Mein Vater war arbeitslos. Die kleine Druckerei, in der er gearbeitet hatte – er ist nämlich von Beruf Drucker –, musste schließen.

Sie bekam keine Aufträge mehr, weil die Kunden, die dort Bücher und bunte Werbeprospekte drucken ließen, lieber zu größeren Druckereien gingen, die billiger arbeiten können als eine kleine Firma. Da wurde mein Vater entlassen.

Von morgens bis abends lief er von einer Druckerei zur anderen, aber nirgends fand er Arbeit.

Zum Glück hatte meine Mutter Arbeit als Verkäuferin in einem Einkaufszentrum, sonst hätten wir uns eine kleinere Wohnung nehmen müssen, weil wir die hohe Miete nicht mehr hätten bezahlen können. Ich selber merkte gar nicht, dass es uns schlechter ging. Ich bekam alles, was ich vorher auch bekommen hatte.

Aber mein Vater hörte auf zu rauchen; wenn er morgens zur Arbeitsuche in die Stadt fuhr, nahm er nicht mehr den Bus und die Metro, sondern stieg auf sein Fahrrad, um das Fahrgeld zu sparen; in diesem Jahr fuhren wir nicht in Urlaub; und als meine Mutter ein neues Kleid brauchte, rechneten beide lange hin und her und beschlossen, mit dem Kauf doch noch zu warten. Für mich war das Schlimmste, dass mein Vater sich sehr veränderte. Als er noch Arbeit hatte, konnte ich ihn alles fragen. Geduldig beantwortete er mir jede Frage. Nun wurde er gleich böse, wenn ich eine Frage stellte.

„Lass mich in Ruhe, ich habe jetzt andere Sorgen“, sagte er oft zu mir, und wenn ich gar keine Ruhe geben wollte, dann wurde er richtig böse. Auch die Geschichten, die er mir sonst jeden Abend am Bett vorlas, fielen nun aus. Ich konnte das damals nicht verstehen und war ziemlich traurig. Heute weiß ich, dass er sich große Sorgen um uns machte, weil das Geld nicht hin und nicht her reichte. Dazu kam noch, dass er immer erst abends von der erfolglosen Arbeitsuche nach Hause kam.

Einmal, als meine Eltern dachten, ich würde schon schlafen, hörte ich, wie sie sich unterhielten …

„Weißt du, Robert“, sagte meine Mutter, „dass du dich nicht mehr wie früher um Pierre kümmerst? Du bist oft sehr ungerecht zu ihm. Er kann doch nichts dafür, dass wir Probleme haben. Du solltest dir etwas einfallen lassen, wie du ihm eine ganz besondere Freude machen kannst …“

Was sie dann noch redeten, das hörte ich nicht mehr, weil ich eingeschlafen war.

Am nächsten Abend kam Vater an mein Bett.

„Sieh mal, Pierre, das ist ein ganz spannendes Buch. Es heißt ‚Die Schatzinsel‘. Daraus werde ich dir jetzt jeden Abend etwas vorlesen. Willst du?“

Und ob ich wollte.

Als wir das Buch ausgelesen hatten, wollte ich unbedingt auch einen Schatz suchen gehen. „Gibt es heute noch Schätze, die man ausgraben kann?“, fragte ich meinen Vater.

„Sicher gibt es noch irgendwo Schätze“, sagte er. Mit dieser Antwort war ich zufrieden.

Gleich am nächsten Tag nahm ich meinen Spaten und buddelte überall Löcher im Hof und im Sandkasten auf dem Spielplatz. Ich fand Steine, verrostete Buddelformen und einmal sogar eine bunte Glaskugel.

Aber ich wollte einen großen, wertvollen Schatz finden: Perlen, Diamanten, Juwelen, Gold- und Silbermünzen. Dann würden wir keine Sorgen mehr haben. Für Mama würde ich dann viele hübsche Kleider kaufen. Wir könnten in den Urlaub fahren. Und für meinen Vater wollte ich ein Auto mit vier Türen kaufen; damit könnte er sich am Gare de l’Est – dem Ostbahnhof – hinstellen und als Taxifahrer wieder Geld verdienen.

Aber so sehr ich auch buddelte, einen richtigen großen Schatz fand ich natürlich nicht.

Aber damit war die Geschichte noch nicht zu Ende …

„Stell dir vor, mein alter Schatzgräber, was ich heute gefunden habe, sieh dir das an“, sagte eines Abends mein Vater zu mir.

Er legte eine Papierrolle auf den Tisch. Eine Schatzgräberkarte! Mann, sah die gut aus, wie eine richtige alte Schatzgräberkarte aus dem Buch „Die Schatzinsel“.

Ganz altes, vergilbtes Papier, an den Rändern ausgefranst und verkohlt. Bäume und Wege waren darauf eingezeichnet. Und an einem Baum war ein dickes rotes Tintenkreuz.

Ich schleppte gleich meinen Spaten aus der Kammer an und wollte, dass wir sofort zur Schatzsuche aufbrachen.

„Langsam, langsam, du wilder Schatzgräber. Heute ist es schon zu spät. Aber gleich morgen früh ziehen wir los. Einverstanden?“

Der andere Tag war ein Sonntag.

Nach dem Frühstück fuhren wir zum Bois de Boulogne, dem Wald von Boulogne.

Und da staunte ich erst mal ganz schön.

Nicht etwa, weil ich auf Schritt und Tritt über vergrabene Schätze gestolpert wäre. Nein, das nicht. Aber auf den Parkwegen ritten fein angezogene Leute auf Pferden spazieren.

So etwas hatte ich noch nie gesehen.

„Was sind denn das für Leute?“, fragte ich.

„Das sind welche, die so viel Geld haben, dass sie nicht wissen, wohin damit“, sagte mein Vater, und er schien sich nicht gerade über ihren Anblick zu freuen.

Aber wir waren ja schließlich hier, um einen Schatz zu suchen. Und ich dachte mir, vielleicht finden wir wirklich einen Schatz, dann können wir uns auch ein Pferd kaufen und hier umherreiten. Dann setzten wir uns auf eine Bank und begutachteten die alte Schatzgräberkarte genau. Tatsächlich, hinten am Rande der großen Wiese standen ein paar Bäume, die genauso aussahen wie die, die auf der Karte eingezeichnet waren. Der dickste Baum, eine alte, knorrige Eiche, war genau der Baum, der auf der Karte mit dem dicken roten Tintenkreuz gekennzeichnet war.

Wie ein Blitz jagte ich über die Wiese, so dass mein Vater zu tun hatte, mir zu folgen. Zwischen zwei starken Wurzeln fingen wir an zu graben. Das heißt, ich wühlte mit meinem Spaten wie ein Maulwurf, und mein Vater sah schmunzelnd zu.

Und plötzlich stieß ich auf etwas Hartes! Vor Aufregung konnte ich kein Wort sagen.

Ich hob ein kleines Kästchen aus der Grube.

Es war in Pergamentpapier eingewickelt! Und darin klapperte es. Mein Vater öffnete es, weil ich das Kästchen vor lauter Aufregung nicht aufbekam, und hielt es mir hin.

Ein funkelnagelneues Fünf-Franc-Stück lag da drin und eine kleine, ganz alte Münze.

Also ein richtiger Schatz!

Es kann sich keiner vorstellen, wie ich mich gefreut habe!

Obwohl, es reichte nicht, um für meine Mutter ein neues Kleid zu kaufen, auch nicht für ein Taxi, nicht mal für ein Pferd.

Aber daran dachte ich in diesem Moment wohl gar nicht. Schatz ist Schatz.

Ich hatte einen Schatz gefunden!

Für die fünf Franc kauften wir am Nachmittag drei Eis. Eins für meine Mutter, eins für meinen Vater und eins für mich. Was mit der alten Münze passierte?

Da hatte meine Mutter eine prima Idee.

„Ich lass dir da eine Öse anbringen, und dann kannst du sie an einer Kette um den Hals tragen. Das erinnert dich immer daran, dass du mal einen richtigen Schatz gefunden hast“, schlug sie vor. Seitdem trage ich die Kette immer.

Selbst beim Baden behalte ich sie um. Nur neulich, als ich als Spartakus den Löwen Charles besiegte, riss sie beim Kampf. Aber mein Vater hat sie noch am gleichen Abend repariert. Übrigens: Heute weiß ich natürlich, dass damals mein Vater die Schatzgräberkarte für mich gezeichnet hatte. Und am Abend vor der Suche war er zur alten Eiche gefahren, um das Kästchen für mich zu vergraben.

Ich könnte noch ganz andere Geschichten erzählen, was mein Vater und meine Mutter alles für Sachen mit mir gemacht haben.

Selbst Charles kommt da nicht mit. Sein Vater hat zwar Geld wie Heu, aber solche Ideen, wie sie meine Eltern für mich haben, hat er nicht. Charles’ Vater hat mit seinem Sohn noch nie eine richtige Schlittenexpedition unternommen. Aber wir, mein Vater und ich, haben im letzten Winter wie richtige Südpolfahrer eine Schlittenexpedition gemacht. Unterwegs haben wir am Lagerfeuer Würste gebraten und dazu fast richtigen Südpolfahrertee aus der Thermosflasche getrunken. Dabei habe ich mich wie ein Forscher gefühlt, wie Roald Amundsen und Robert Scott zusammen. Manchmal wünsche ich mir folgendes:

Ich möchte mal etwas richtig Großes und Wichtiges für meine Eltern tun. So was, wo sie sich unheimlich drüber freuen würden.

Aber mir ist nie etwas eingefallen.

Dass ich beim Einkaufen helfe, den Mülleimer runterbringe, manchmal abwasche oder Kohlen aus dem Keller hole, das ist doch klar, das zählt doch nicht besonders.

Einmal hatte ich aber doch so eine ganz besondere Gelegenheit, etwas Besonderes zu tun. Nämlich: Nachdem mein Vater nach seiner letzten Arbeitslosigkeit wieder Arbeit in einer Druckerei bekommen hatte und dort schon ein paar Jahre beschäftigt war, passierte eine schlimme Sache.“

Erstmals 2004 veröffentlichte Hans Bentzien im Verlag Das Neue Berlin seine Biografie „Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Der Täter und seine Zeit“: Am 20. Juli 1944,12.40 Uhr, detoniert in Hitlers Hauptquartier an der Ostfront eine Bombe. Der Attentäter, Oberst Stauffenberg, ist bereits auf dem Wege zum Flughafen. Sein Ziel ist Berlin. Dort will er den Staatsstreich gegen Hitler, der den Anschlag leicht verletzt überlebte, koordinieren. Gegen Mitternacht wird Stauffenberg hingerichtet. Das ist bekannt. Wie aber wurde gerade er zum Attentäter, zur Symbolfigur des militärischen Widerstandes gegen Hitler? Claus Schenk Graf von Stauffenberg – Jahrgang 1907, jüngster Sohn des württembergischen Oberhofmarschalls, aufgewachsen im Stuttgarter Königsschloss, Schwarmgeist, Schüler, im George-Kreis, Kavallerieoffizier der Reichswehr; Generalstabsoffizier in Hitlers Wehrmacht: Hans Bentzien erzählt diese Biografie spannend, neu und kenntnisreich; er entwirft ein umfassendes Bild des Täters und seiner Zeit. In dem hier ausgewählten Ausschnitt aus dem Buch geht es um Stauffenberg und das Jahr 1933:

„Die Machtübernahme durch Hitler feierten dessen Anhänger in Bamberg wie überall im Reich mit Aufmärschen und Fackelzügen. Die SA marschierte auf und zeigte, dass sie eine schlagkräftige Truppe war, ausgerüstet wie eine Armee. Stauffenberg war an diesem Tage in Bamberg, hat sich aber nicht an diesen Veranstaltungen beteiligt. Einerseits verbot seine Überzeugung eine Feier mit den Nazis, andererseits war er an das unpolitische Gebot der Soldaten gebunden. Pardoxerweise ist 1951 die Behauptung aufgetaucht, er sei an der Spitze dieses Demonstrationszuges durch Bamberg marschiert. Dieses Bild hätte gut in die eine Zeit lang verbreitete Auffassung gepasst, Claus sei anfangs ein Anhänger der Nazis gewesen und erst später, nach seiner Verwundung, von ihnen abgefallen. Der angebliche Gewährsmann für diese Geschichte sollte sein Regimentskamerad Peter Sauerbruch gewesen sein. Sauerbruch hat sich allerdings von diesem Bericht distanziert und eine öffentliche Korrektur verlangt.

Es wäre schon sehr merkwürdig gewesen, hätte Stauffenberg seine Abneigung gegen Hitler und seine Anhänger plötzlich geändert. Er folgte in keinem Fall den gängigen Parolen, sondern hatte eine eigene Lebensauffassung gewonnen. In einem Brief an Kommerell ist sie auf folgende Weise formuliert: „… Die Härte (des Lebens) liegt im gleichmäßigen Vorwärtsschreiten trotz eigenen Zweifels, im unbedingten Gehorsam sich selbst gegenüber, in der Disziplin, nur auf eines zu achten. Daher nur die Fragen: Was wirst du tun? Was kann geschehen? Welche Aussichten bestehen? Alle anderen Betrachtungsweisen sind in rebus politicis (im politischen Rätselspiel) müßig.“

Er wollte im rätselhaft erscheinenden politischen Leben kein bedingungsloser „Anhänger“ sein und ist es tatsächlich auch nie gewesen. Eher ist seine Haltung wohl als Pragmatismus zu bezeichnen: Die Dinge so betrachten, wie sie sind, die Aussichten, die zu erwartenden Entwicklungen beurteilen und dementsprechend sich verhalten. Er betrachtete die Nazibewegung als Revolution, also als eine Bewegung von unten, und eine solcherart erlangte Macht war er nicht bereit anzuerkennen.

Doch das politische Rätselspiel wurde noch verzwickter, als einen Tag nach der Besprechung Hitlers mit den Generälen, am 4. Februar bereits, Reichspräsident von Hindenburg eine „Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes“ erließ, mit der jede Kritik an der neuen Regierung unter Strafe gestellt wurde. Die Presse und die sie tragenden Organisationen wurden mit Verbot bedroht, wenn sie gegen Hitler Stellung nahmen. Es ging darum, die nach der Auflösung des Reichstages fälligen Wahlen dazu zu nutzen, dass die Nationalsozialisten die erforderliche Mehrheit bekamen, um allein regieren zu können. Sie wollten auch die Deutschnationalen ausbooten, und dafür brauchten sie die Stimmen von SPD- und KPD-Wählern. Von dieser Seite war allerdings immer die schärfste Kritik gekommen, die ausgeschaltet werden musste.

Trotzdem fanden Kundgebungen statt. Die SPD versammelte im Berliner Lustgarten am 7. Februar 200.000 Menschen für die Arbeitereinheit gegen faschistische Diktatur. Auch in anderen Orten demonstrierten die Arbeiterorganisationen gegen die Nazis, als Antwort überfielen SA-Trupps Arbeiterfunktionäre und schlugen sie zusammen. Der preußische Innenminister und engste Mitarbeiter Hitlers, Hermann Göring, verpflichtete die Polizei, rücksichtslos, auch mit der Schusswaffe, gegen Kommunisten und andere Antifaschisten vorzugehen. Die anderen Länderregierungen übernahmen diese Verordnung.

Nun polarisiert sich die politische Landschaft noch mehr. Die Schriftsteller erklären sich in der Mehrheit gegen Hitler. Carl von Ossietzky erklärt auf einer Versammlung: „Ich gehöre keiner Partei an. Ich habe nach allen Seiten gekämpft, mehr nach rechts, aber auch nach links. Heute jedoch sollten wir wissen, dass links von uns nur noch Verbündete stehen.“

Die stärkeren Kräfte stehen auf der rechten Seite. Drei Wochen nach Hitlers Machtergreifung sammelt die deutsche Schwerindustrie auf Vorschlag des Bankiers Schacht drei Millionen Mark für den Wahlkampf Hitlers. Er hatte versprochen, eine wirtschaftliche Aufrüstung zu beginnen, da würde ihnen die Summe in keinem Falle verloren gehen. Und zur selben Zeit erklärt Göring die bewaffneten SS-, SA- und Stahlhelm-Formationen zur Hilfspolizei. Auf diese Weise bekam die Hitlersche Parteiarmee sogar staatliche Funktionen übertragen, und jeder ihrer Übergriffe galt als Polizeihandlung. Wer sich dagegen wandte, leistete Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Eine spektakuläre Provokation hilft der Hitlerpartei bei der Ausschaltung ihrer Gegner: Kurz nach 21.00 Uhr am 27. Februar brennt der Reichstag. Die Naziführer beschuldigen sofort und ohne Untersuchung die Kommunisten, den Brand gelegt zu haben. Hitler meint gar, der Brand sei ein „von Gott gegebenes Zeichen“, um die Kommunisten „mit eiserner Faust zu vernichten“. In einer vorbereiteten Aktion wurden, beginnend in der gleichen Nacht, im Lande 10.000 Funktionäre der KPD und der SPD verhaftet – in Berlin allein 1.500, u.a. Ernst Thälmann und Georgi Dimitroff, ein führender Vertreter der kommunistischen Internationale. Mit diesem Schritt wird psychologisch vorbereitet, dass die Regierung Hitlers gegen Recht und Gesetz bald die 81 Mandate der KPD-Abgeordneten annulliert. Keine der anderen Parteien protestiert dagegen, und nun sind die Nationalsozialisten ermutigt, im nächsten Vierteljahr alle anderen Parteien zu verbieten.

Am Tag nach dem Brand erfolgt sofort die Veröffentlichung einer weiteren Notverordnung „Zum Schutze von Volk und Staat“. Sie setzt die entscheidenden Artikel der Weimarer Verfassung außer Kraft und schafft die persönlichen Freiheiten, die Pressefreiheit, das Vereins- und Versammlungsrecht ab, erlaubt Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung und Eingriffe in das Brief- und Postgeheimnis. Wer sich im antifaschistischen Sinne betätigt, wird mit der Todesstrafe bedroht.

Diese Verordnung ist die eigentliche Urkunde für die Abschaffung der Weimarer Demokratie. Auf ihrer Grundlage werden bereits in den nächsten Monaten weitere 460 Sondergesetze und Verordnungen erlassen.

Am 21. März wird der Reichstag, der aus der Wahl am 5. März hervorgegangen ist, eröffnet. Der Tag beginnt nach Gottesdiensten mit einer Feier am Grabe Friedrichs des Großen in der Garnison-Kirche zu Potsdam. Die kommunistischen Reichstagsabgeordneten waren nicht zugelassen, und die sozialdemokratischen blieben diesem Staatsakt demonstrativ fern. Hindenburg und Hitler gaben Erklärungen ab. Die symbolische Verneigung des Gefreiten vor dem Feldmarschall sollte unterstreichen, dass der Geist von Potsdam von nun an in Deutschland herrschen würde, nicht mehr der Geist von Weimar. Schon am 23. März beschließt der Reichstag – ohne die Kommunisten und Sozialdemokraten – das „Ermächtigungsgesetz“, das der Hitlerregierung alle Gesetzgebungsgewalt gibt und die Weimarer Verfassung – und damit die Republik – beendet.

Ohne das Parlament zu fragen, durfte nunmehr die Regierung Gesetze erlassen, „… die von der Verfassung abweichen“.

Nur die 94 anwesenden Abgeordneten der SPD erhoben ihre Nein-Stimme; viele SPD-Mandatsträger und kommunistische Abgeordnete waren schon verhaftet und fehlten daher. Dennoch reichte die Zahl der NSDAP-Abgeordneten nicht für eine Zweidrittelmehrheit aus. Das Zentrum, die Partei der katholischen Mitte, stimmte aber für das Ermächtigungsgesetz – und schaffte sich damit selbst ab.

Der SPD-Vorsitzende Wels rettete die Ehre der Demokratie, indem er eine ablehnende Rede hielt, die wichtige Themen zwar aussparte, doch ein Bekenntnis zu den Verfolgten des Naziterrors beinhaltete: „Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“

Die bürgerlichen Parteien ließen sich allesamt von Hitlers Versicherung blenden, er werde dieses Gesetz nur mäßig anwenden. Tatsächlich wurden dem Reichstag in der Folge nur noch sieben Gesetze vorgelegt, alle anderen wurden direkt von der Regierung erlassen. Die Republik war „auf legalem demokratischem Wege“ abgeschafft worden, die Diktatur hatte sich installiert.

Claus von Stauffenberg bringt dieses dramatische Jahr 1933 Gewinn – seine Beförderung zum Oberleutnant (am 1. Mai) und die Hochzeit mit der Baronesse Nina von Lerchenfeld. Die junge Dame stammt aus einer alten bayerischen Adelsfamilie; ihr Vater war in diplomatischen Diensten tätig gewesen, in Schanghai, in Kowno und Warschau. Beide junge Eheleute gehören verschiedenen Konfessionen an, Nina dem evangelischen, Claus dem katholischen Glauben. Sie einigen sich darauf, die Kinder katholisch zu erziehen, so wird die Familientradition väterlicherseits aufrechterhalten. Im Übrigen ist Claus der gleichen Meinung wie seine Brüder und Stefan George. Sie halten die religiösen Dinge für untergeordnet. Die Religion sei mehr eine historische Erscheinung, sie hätte in unserer Zeit ihre Bedeutung verloren, da sie nichts Neues mehr hervorbringe.

Trotzdem findet eine kirchliche Hochzeit in der Bamberger St. Jacobs-Kirche statt. Am 26. September treten Nina von Lerchenfeld und Claus von Stauffenberg glückstrahlend vor den Traualtar und begeben sich nach der Feier im Familienkreise auf die Hochzeitsreise nach Italien. Sie nutzen in Rücksicht auf die schmalen Einkünfte eines Oberleutnants die Möglichkeit, Devisen günstiger tauschen zu können, wenn man die große Propagandaausstellung zum Jahrestag der faschistischen Machtergreifung in Italien besuchen wollte. Auf dem Reiseprogramm standen jedoch in erster Linie die üblichen Sehenswürdigkeiten Roms. Auch zu der italienischen Spielart des Faschismus besaßen die beiden Eheleute keine besondere Affinität, sie genossen lediglich ihre Flitterwochen im Süden.

Die Georgeaner standen vor der Notwendigkeit, sich einen Standpunkt zur Politik Hitlers zu bilden. Der brutale Umgang der Nazis mit ihren Gegnern blieb niemandem verborgen, und das besonders Unangenehme daran war, dass sich die Schlägertrupps bei ihrer „völkischen Mission“ auf George beriefen und ihn in die Ahnenreihe der Nazibewegung aufnehmen wollten. Bei einer Feier „aus Anlass der Gründung des Dritten Reiches“ zitierten sie im Chor sein Gedicht „An die Toten“ aus der Sammlung „Das Neue Reich“. Ihr völkischer Kleingeist sollte nun durch Berufung auf George in eine Art von weltlicher Staatsreligion veredelt werden. Besonders die akademische Anhängerschaft Hitlers, die wenig später die Bücherverbrennungen durchführte, betrieb Georges geistige Eingliederung in die Bewegung.

Der Kreis diskutierte die ersten Schritte Hitlers, entgegen der sonstigen Gepflogenheit, durchaus kontrovers. Einige liefen mit fliegenden Fahnen zu Hitler über, andere sympathisierten mit ihm. George vermied es, sich öffentlich in einer bestimmten Richtung zu äußern, er hatte noch keine klare Haltung gefunden. Und er vermied es auch, seine Umgebung zu beeinflussen.

Doch lange konnte diese Abstinenz nicht dauern, sein 65. Geburtstag stand bevor. Es war zu erwarten, dass die Nazi-Ideologen ihn benutzen würden, George vor ihren Karren zu spannen. Es geisterten bereits Gerüchte in Berlin, dass der Dichter am 12. Juli durch die Stiftung eines Preises geehrt werden solle. In seinem Namen war beabsichtigt, Werke auszuzeichnen, in denen der faschistische Geist besonders sinnfällig zum Ausdruck kam. Auch war geplant, ihn zum Präsidenten der Klasse für Dichtung an der Akademie der Künste zu berufen – auf den Platz, der durch die Verjagung Heinrich Manns frei geworden war. Josef Goebbels und Erziehungsminister Bernhard Rust schickten einen Emissär zu George, um diskret zu klären, wie er sich zu einer solchen Ehrung verhalten würde. Seine Antwort soll gelautet haben, er sei in seiner Person schon immer die eigentliche Dichterakademie gewesen und bedürfe solcherart fragwürdiger Ehrungen nicht. Und somit geschah an seinem Geburtstag nichts Offizielles. Er konnte erleichtert wieder in sein geliebtes Locarno abreisen.

Eine Emigration? Sicher nicht, auch wenn er geäußert hat, als das Schiff in der Mitte des Bodensees angekommen war, er könne jetzt freier atmen. Die Nazis waren ihm einfach suspekt. Da sie ihrerseits fürchteten, er könne seine distanzierte Meinung öffentlich äußern, wenn sie ihn festlegen wollten, vermieden sie – wie auch er – eine Konfrontation. Bei George wird die Widersprüchlichkeit deutlich zwischen dem subjektiven Wollen des Dichters und der objektiven Wirkung seines Werkes, wenn es veröffentlicht und jedermann berechtigt ist, es zu interpretieren.

Doch er hatte immer noch keine vollkommene Ruhe vor dem Versuch, ihn in den Rahmen der „nationalsozialistischen Revolution“ zu pressen. In der Angelegenheit der Dichterakademie hatten sie eine Absage riskiert, nun folgte der Vorschlag, ein „Stefan-George-Stipendium“ für junge Begabungen einzurichten. Die bereitgestellte Summe war ungewöhnlich hoch, und er sollte sie allein verteilen dürfen, ohne irgendeinen Vormund. Um den Schülern, die er eigentlich unterstützen wollte, eine einleuchtende Erklärung für seine Absage zu geben, nannte er den wahren Grund. Er schrieb als Antwort: „Zwar bin ich der Ahnherr jeder nationalen Bewegung, wie aber der Geist in die Politik kommen soll, kann ich Ihnen nicht sagen.“

Als ob er die Querelen um seine Person satthätte, legte sich der Meister Anfang Dezember 1933 zum Sterben. Die Brüder Stauffenberg erfuhren am 2. Dezember davon und eilten sofort an sein Sterbelager nach Minusio bei Locarno. Am Abend des nächsten Tages waren sie bei ihm und wachten mit den anderen an seinem Sterbebett, bis in der Nacht der Tod eintrat. Die anwesenden vierzehn Schüler beschlossen, jedwede öffentlichen Ehrungen zu verhindern und wegen der zu befürchtenden Versuche der Nazis, den Dichter noch im Tode zu vereinnahmen, die Beisetzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorzunehmen. Davon zeugt auch der ungewöhnliche Zeitpunkt, morgens um 8.00 Uhr am 6. Dezember, bei geschlossenem Friedhofstor. Bis dahin hielten die Schüler nach einem von Claus von Stauffenberg festgelegten Ablaufplan ununterbrochen die Totenwache. Damit war verhindert worden, den toten Dichter durch eine Hitlerjugendstafette „heimzuholen“, wie das Erziehungsministerium beabsichtigte. Ein Kranz des deutschen Konsulats – im Auftrag Berlins – konnte erst einige Tage später niedergelegt werden.

Diese kleinen Gesten eines Widerstandes gegen die Nazis zeigen besser als alle Analysen, wie die junge Elite diese Bewegung beurteilte. Alle Versuche, die geistige Sphäre zu beeinflussen, wurden mit den geringen zur Verfügung stehenden Mitteln abgewehrt. Die Scheiterhaufen, auf denen der deutsche Geist verbrannt werden sollte, konnten sie allein allerdings nicht verhindern.“

Soweit dieser sehr aufschlussreiche Blick in die deutsche Geschichte und in die Biografie von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die sich auch heute wieder einmal zur Hand zu nehmen lohnt.

Gleiches gilt für die anderen vier Deals der Woche – von den Geschichten von Mäxchen und Pauline und Pierre bis zur Geschichte der berühmten Seefahrtschule Wustrow und zu dem Osteeküsten-Entdeckerbüchlein „Von Boltenhagen nach Ahlbeck“. Auch darin findet sich noch immer viel Interessantes und Anregendes – für Zugezogene, Touristen und andere Neulinge gleichermaßen, wie es der Autor damals im Untertitel formulierte.

Viel Spaß beim Lesen und Entdecken, kommen Sie gut in den Mai und bis demnächst.

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