Gleich zwei der insgesamt fünf Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 7.21.20 – Freitag, 14.2. 20) zu haben sind, befassen sich mit dem großen Thema Gerechtigkeit. Und diese beiden haben ein- und denselben Autor: Heinz Kruschel. Auch wenn die Erstveröffentlichungen dieser beiden Texte nun schon ein paar Jahrzehnte zurückliegen, so sind die darin erzählten Geschichten noch immer und gewissermaßen ewig aktuell. Es geht um Macht und Machtmissbrauch und um den Widerstand dagegen. So wollen Mitschüler, Eltern und auch Lehrer in „Paragraph 51?“ den Freispruch gegen einen Lateinlehrer nicht hinnehmen, der sich an einer seiner Schülerinnen vergangen hatte. Der Fall hat allerdings auch eine parteipolitische Dimension. Und in „Die Rebellion der Franca Viola“ verteidigen Franca und Luigi, die auf Sizilien leben, ihre Liebe gegen alle Widerstände – vor allem gegen den reichen, mächtigen und undurchsichtigen Fillipo. Der glaubt, für sein Geld alles kaufen zu können, einfach alles …

Zwei weitere E-Books des heutigen Newsletters stammen von Renate Krüger. In „Herbst des Lebens. Betrachtungen über das Älterwerden“ denkt die Autorin darüber nach, was am Ende des Lebens bleibt. Und in ihrer Literarischen Reportage „Doberaner Maßwerk – Einsichten und Sehweise“ nähert sie sich auf eine ganz persönliche Weise an das bedeutende Bauwerk der norddeutschen Backsteingotik an – das Münster in Bad Doberan.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Das heutige Buch greift zum einen weit in die Geschichte zurück, in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Es ist aber zum anderen auch ein Gegenwartsbuch, geht es doch darin um den Kampf um die Freiheit eines Volkes um seine Befreiung von faschistischen Besatzern und um die Unterstützung von Menschen, die demselben Volk angehören, wie die Faschisten. Feinde und Freunde sind Deutsche. Es geht um die Entscheidung, auf welcher Seite man steht. Damals wie heute.

Erstmals 1979 erschien als Band 156 in der Reihe „Spannend erzählt“ im Verlag Neues Leben Berlin „Weißer Tod am Chabanec“ von Dietmar Beetz: Mitten im Wald trifft Johann Schlichter auf die Frau, auf Helena. Sie müht sich ab, einen Toten fortzutragen. Eigentlich müsste Schlichter vorbeischleichen. Er ist Kurier, und sein Auftrag eilt. Aber er bringt es nicht fertig, denn er sieht, die Frau ist am Ende ihrer Kräfte. Plötzlich sind Männer da. Schlichter weiß, es ist der Schwarze mit seiner Bande. Sie sind Partisanen, Freunde eigentlich. Doch sie sind auch Anarchisten, undiszipliniert, schwer berechenbar. Was werden sie tun, wenn sie entdecken, dass er Deutscher ist? Was wird aus dem Auftrag? Kann Helena helfen? Sie kennt die Männer, und sie scheint Freunde unter ihnen zu haben. Der Autor erzählt in diesem Buch von den Erlebnissen und Konflikten zweier Deutscher, die am slowakischen Freiheitskampf im Zweiten Weltkrieg teilnehmen. Im folgenden Ausschnitt vom Beginn des 2. Kapitels erfahren wir ein wenig mehr über den einen Deutschen in der Slowakei, über Johann Schlichter, der einen besonderen Auftrag übernehmen soll:

„Jetzt kommt’s! dachte Johann, als er nach seiner Meldung den Adjutanten aufhorchen sah, als er den interessierten, musternden Blick des Offiziers gewahrte.

„Schlichter, Johann, geboren am achten zwölften neunzehnhundertelf in Essen, Deutschland, wohnhaft vor der Emigration in Jelenská Hora, Slowakei?“

Der Adjutant schaute fragend auf, und Johann bestätigte beklommen. Und lauschte dem Murmeln, mit dem der Offizier die nächsten Angaben überflog, und erstarrte abermals, als der Finger erneut in den Unterlagen verharrte.

„Spricht fließend deutsch, slowakisch und russisch?“

„Jawohl, Genosse Leutnant!“ ‚

„Gut. Ausgezeichnet! – Nimm bitte Platz, Genosse Schlichter!“ Diese Wendung ins Zivile verwunderte Johann, beruhigte ihn aber nicht sonderlich, und als der Adjutant sich gar entschuldigte, ins Nebenzimmer ging und die Tür hinter sich schloss, erhielt sein Argwohn neue Nahrung.

Was sind denn das für Sitten? fragte er sich. Reden mit unsereinem wie mit einem Herrensöhnchen: Nimm bitte Platz! und: Entschuldige bitte! Die eigenen Leute – wie damals der Zechenboss zum Streikkomitee. Wenn man bloß wüsste …

Und dann wurde die Tür geöffnet, und der Adjutant hieß Schlichter eintreten und erstattete, nun durchaus militärisch, seinem Vorgesetzten Meldung; doch der Major, der sich hinter einem Schreibtisch erhob, begrüßte Johann wiederum auf recht zivile Weise.

Wie ein Student, dachte Schlichter, flüchtig verwundert, dass er kaum seine übliche Abneigung solchen Bürschchen gegenüber empfand. Eher schmeichelte ihm, vom Chef persönlich empfangen zu werden – eine Regung, die Johann, wäre sie ihm bewusst geworden, sich nicht eingestanden hätte. Zudem beschäftigte ihn jetzt mehr die Ahnung, dass er einen Sonderauftrag erhalten sollte, dass also niemand hier beabsichtigte, ihn zur Rede zu stellen und zur Verantwortung zu ziehn, und als er schließlich Gewissheit hatte, atmete er auf, spürbar erleichtert.

„Ich sehe. Sie freuen sich über die Aufgabe“, stellte der Major, Johanns Gesicht durchforschend, fest.

„Klar“, erwiderte Schlichter, ohne zu zögern, ohne zu überlegen. „Da kriegt man endlich was zu tun und kann sich bewähren.“

„Gut“. – Ein Lächeln erschien in den jugendlich glatten Zügen des Majors, und nun erst dachte Johann: Ein Fehler! Zuviel Eifer ist immer falsch, und wenn man seine Begeisterung zeigt, wird man belächelt. Oder verdächtigt.

Der Major jedoch war bereits wieder ernst wie zuvor. Nachdenklich wiederholte er: „Gut. Aber mit den Faschisten ist nicht zu spaßen. – Kommen Sie, Genosse Schlichter, schauen wir uns die Lage mal an!“

Er trat neben Johann an eine Karte, die hinter seinem Schreibtisch einen Großteil der Wandfläche einnahm, und umfuhr mit der Hand ein durch Fähnchen markiertes Gebiet.

„Das ist alles, was von den Aufständischen noch kontrolliert wird – wie Sie sehen: nicht einmal die gesamte Mittelslowakei. Im Norden und Osten, im Westen – überall bedrängt uns der Feind. Besonders heftig sind die Kämpfe am Duklapass.“

Er wies auf einen Kreis inmitten dicht gedrängter Linien, wo eine weitere Fähnchenkette verlief, und Johann nickte; er kannte sich in der aktuellen Lage an den Fronten aus und verstand sich seit seiner Ausbildung aufs Kartenlesen.“ Und damit zur ausführlicheren Vorstellung der anderen Angebote dieses Newsletters.

Erstmals 1965 veröffentlichte Heinz Kruschel als Heft 105 der Erzählerreihe des Deutschen Militärverlags Berlin „Paragraf 51?“: Der Lateinlehrer des Gymnasiums in B., erfolgreicher Redner im Wahlkampf der CDU, vergreift sich an einer Schülerin – und wird freigesprochen. Der Klassenlehrer der 12. Klasse weigert sich, weiter zu unterrichten, solange Dr. Schrei noch an der Schule ist. Ihm schließen sich die Eltern und Schüler an. Es kommt zum Schulstreik, begleitet von schmutzigen Intrigen und Erpressungen durch dessen einflussreiche Freunde. Hier das 2. Kapitel, in dem wir den Anfang der kommenden Auseinandersetzungen miterleben und spüren, dass es schwierig werden wird. Babkuhl und Marwitz sind Mitschüler von Anke, der Tochter von Frau Komorowski:

„In der Nachtbar „Münster-Grotte“. Ein kleiner Saal, abgeteilte Nischen, knallrote Wände, wenig Betrieb: einige Paare, Geschäftsreisende, gelangweilt tuende Jünglinge, auffällig geschminkte und einheitlich frisierte Frauen, eine müde Dreimannkapelle mit einer kleinen, üppigen Sängerin, Lys-Assia-Imitation.

„Nur eine Bestellung für Frau Komorowski“, beruhigte Horst Babkuhl den livrierten Portier, „mein Freund bleibt gleich bei Ihnen.“ Der Mann blickte misstrauisch, aber Wolfgang Marwitz verwickelte ihn gleich in ein Gespräch über die Zucht von Zierfischen im Allgemeinen und über Zahnkarpfen im Besonderen und hatte mit dieser Vermutung richtig getippt, der Mann war tatsächlich ein Aquarianer.

Die Barhocker waren alle besetzt. Ankes Mutter, blond, groß, Puppengesicht mit eingelerntem Lächeln, wirkte angeheitert und bemerkte Horst Babkuhl nicht. „Tatsache“, sagte ein dünner, rothaariger Mann laut und hielt ihre Hand fest, „Sie haben eine Figur mit Pausen, Ilona.“

Die Frau schüttelte den Mixbecher, „Sie verwechseln mich“, sagte sie, „ich heiße nicht Ilona.“

„Das macht nichts, für mich heißen alle Frauen ab einsfünfundsiebzig Ilona. Das geht auf ein Urerlebnis zurück.“

Alle lachten. Die Frau sagte etwas wohlgefällig „Ach Sie“ und erkannte Horst Babkuhl, der zwischen zwei Hockern stand.

„Einen Manhattan“, sagte Horst. Und als sie das Glas absetzte: „Ich muss Sie sprechen, Frau Komorowski.“

Die Frau zuckte die Schultern. „Sie sehen doch, der Betrieb hier …“ „Aber es geht um Anke.“

Frau Komorowski sah sich um. Für einen Augenblick schwand das maskenstarre Lächeln von ihrem Gesicht. „Es geht nicht.“

„Ich habe sie besucht, es geht ihr nicht gut.“

„Das weiß ich.“

Der Mann, der alle großen Frauen Ilona nannte, sagte mit schwerer Zunge: „Wer ist denn Anke nun wieder, Ilona?“

„Meine Urgroßmutter“, sagte Horst wütend, „also ich muss mit Ihnen …“

Frau Komorowski winkte einen Ober heran und ging mit Horst in einen kleinen Nebenraum hinter der Bar, in dem man Flaschen und Obstsäfte aufbewahrte. „Machen Sie es schnell, Horst.“ Sie zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und streifte die Schuhe von den Füßen.

„Wir müssen etwas unternehmen, Frau Komorowski. Wissen Sie, dass Schrei freigesprochen wurde? Wissen Sie, was man Anke unterstellt?“

Die Frau sagte: „Ich habe es gelesen, gleich zweimal, in einem Brief des Gerichts und in diesem Käseblatt!“

„Und? Wenn das Anke erfährt, kann man das Schlimmste befürchten.“

„Das kann sein, Horst. Aber sie ist alt genug und muss damit fertig werden, da kann ihr keiner helfen“, sagte die Frau.

Babkuhl stand auf. Was soll man da tun, dachte er, man kann es Ankes Mutter nicht einmal übel nehmen, sie weiß, wie es um sie selber steht. Vielleicht fehlt ihr die Kraft. Dennoch verlangte er: „Aber Sie müssen Anzeige erstatten, das ist doch eine Verleumdung …“

Die Frau erhob sich. Sie war so groß wie Babkuhl. „Ich tue nichts mehr. Und ich weiß auch nicht, ob das eine Verleumdung ist. Man wird ja selbst irre dabei.“

Es hatte keinen Zweck. In dem hellen Licht wirkte das Gesicht der Frau alt und leer. Der Ober klopfte an das kleine Guckfenster, sie gingen in die Bar zurück.

„Eine Runde für alle Hockenden, Ilona“, rief der Mann, „das, was Sie am liebsten trinken. Wir trinken auf die Pausen und auf das, was sich zwischen ihnen befindet!“

Die Mädchen kicherten. Horst blickte Frau Komorowski an. Ihr Lächeln war wieder da, das Lächeln der Bardame von der „Münster-Grotte“, das Lächeln laut Arbeitsvertrag.

Als Marwitz das ernste Gesicht des Freundes sah, unterbrach er das Gespräch über die lebend gebärenden Zahnkarpfen zum Bedauern des livrierten Portiers.

Auf der Straße glänzte der Asphalt, ein feiner Nieselregen ging nieder. „Also nichts erreicht“, sagte Marwitz, „ich habe es mir denken können. Damit wird diese Frau auch nicht fertig, selber krank, hat sie Anke noch in die Klinik gebracht und meint, damit genug getan zu haben. Jetzt sind wir mit unserem Latein am Ende, Horst, es bleibt nur noch der Elternbeirat.“

Babkuhl legte den Arm um die schmalen Schultern Marwitz’, der einen Kopf kleiner war als er. „Und die Klasse? Wenn die ganze Meute aufmucken würde …?“

„Das wäre natürlich etwas in unserem Kirchspiel. Ein Skandal. Meine alte Dame bekäme einen Schock. Aber glaubst du wirklich, dass alle mitmachen würden? Ankes wegen?“

Babkuhl zweifelte auch daran. Aber versuchen, versuchen konnte man es doch, versuchen musste man alles. Es ging doch nicht nur um Anke, es ging um die Gerechtigkeit. Für Anke empfand er Mitleid, Dr. Schrei verabscheute und hasste er. Verstehen konnte er das Mädchen nicht, er konnte nicht begreifen, wie man nachgeben konnte, diesem widerlichen Schrei nachgeben konnte. Versetzung hin, Versetzung her, der Mutter nicht mehr zur Last fallen wollen, das ist ja alles sehr edel, aber um diesen Preis? Nun ist es geschehen, und man müsste doch in dieser Kleinstadt begreifen, dass ein Mann wie Dr. Schrei kein Lehrer, kein Erzieher sein kann. „Was haben wir eigentlich auf?“, fragte er Marwitz.

Der sagte gleichgültig: „Gravitationsgesetz für die Erdoberfläche, drei Aufgaben. Du kannst mitkommen, schreib das Zeug ab, sonst zergrübelst du dich bloß, wie man diesen Schrei zur Strecke bringen kann.“

„Du hast recht. Wie wäre es denn mit Hilfe der ehemaligen Hausangestellten?“ Es lagen Aussagen vor, dass Schrei die Gewohnheit hatte, seine minderjährigen Angestellten an Hüften und Brust zu tätscheln, das Gericht hatte das ja entschuldigt, „ein subjektives Unrechtsbewusstsein habe er dabei nicht gehabt“.

Marwitz hatte dazu keine Meinung, das war ihm alles nicht wirksam genug.

Zu der Zeit, es ging auf zweiundzwanzig Uhr, da Horst Babkuhl die Mathematikaufgaben von seinem Freunde Marwitz abschrieb, wurde in das Zimmer Anke Komorowskis eine dicke, fünfzigjährige Frau eingewiesen, die in jedem Herbst zu den Stammpatienten der Klinik zählte: Frau Meldegg, Neurasthenikerin, konstitutionell bedingt. Sie redete mit misstönender, hoher Stimme ununterbrochen über sich und ihre Krankheit und begann dann, Anke auszufragen. Nach einer Stunde wusste Anke, die heftige Kopfschmerzen hatte, alles über das Leben, die Verwandten und Freundinnen der Dicken und vergaß es im gleichen Moment wieder. Aber dann, dann erfuhr sie noch mehr. Rücksichtslos redete die Meldegg auf Anke ein.

„Mit solchem Urteil ist man schnell bei der Hand, Kleines, glauben Sie mir, was ist auch schon dabei. Man vergisst morgen, was heute in der Zeitung stand.“ Anke richtete sich auf und wurde hellhörig. Die Meldegg erzählte. Sie kannte den Zeitungsartikel mit dem Urteil fast auswendig, in einer solchen Kleinstadt gibt es selten sensationelle Meldungen, sie wusste von vielen Gerüchten und wunderte sich nach einer Weile, dass ihre schwarzhaarige Zimmergenossin rote Flecke auf den Wangen bekam und zu fiebern begann.

Da erst klingelte sie nach der Nachtschwester.

Zu der Zeit, so gegen Mitternacht, da man Anke Komorowski in der Klinik ein fiebersenkendes Mittel gab, krempelten sich in der privaten Kegelbahn des Rechtsanwalts Dr. Schließhak drei Männer die Ärmel ihrer weißen Oberhemden herunter und wischten sich den Schweiß von Hals und .Stirn.

Schließhak rieb die beschlagenen Gläser seiner Brille blank, blinzelte kurzsichtig und sagte: „Emil ist in Form und nicht zu schlagen. Der Urlaub von der Schule hat ihm gutgetan. Uns nicht, mein Lieber, uns gar nicht.“

Dr. Schrei runzelte die Stirn. „Du könntest mal ein anderes Thema wählen, Robert. Was ist schon passiert? Nichts, morgen unterrichte ich wieder, und dieser Pehlgrimm wird sich offiziell bei mir entschuldigen müssen. Müssen, sage ich.“

Sie gingen in den Salon zurück. Das habe Robert nicht gemeint, sagte Oberstudiendirektor Jennrich, es gebe auch Rücksichten der Partei gegenüber, in sechs Monaten sei die Landtagswahl. Man müsse jetzt alles vermeiden, was zu einem Stimmenverlust führen könnte. Mit Mühe habe man – nicht nur die Schule – vor einem Skandal bewahren können.

Dr. Schließhak unterbrach die umständliche Rede des untersetzten Direktors. „Mit anderen Worten“, sagte er, „es interessiert mich nicht im Geringsten, wie viel kleine Mädchen du ins Bett legst. Das ist deine Sache, nicht mein Geschmack übrigens, das nur nebenbei. Aus purer Freundespflicht haben wir dir nicht geholfen.“

„Das ist sehr nett“, sagte Schrei. Er knöpfte sich das Jackett zu. Was spielen sie sich hier auf, dachte er, eine Unvorsichtigkeit von mir, wer hätte denken können, dass dieses schwarzhaarige Immensee-Mädchen redet. Man hat mir nichts nachweisen können.

„Denke darüber, wie du willst. Lass diese Mätzchen aber, in solchen Dingen ist die Bevölkerung noch empfindlich. Und das sind unsere Wähler. Du gehörst zu den besten Wahlrednern im Landesverband, das verpflichtet. Wir nennen uns, das nur nebenbei, christlich-demokratisch, mein Lieber.“

„Also darauf trinken wir dann“, sagte Dr. Schrei und hob das Glas. Er wollte nach Hause und hatte die Moralpredigten satt. Außerdem würde er morgen wieder unterrichten müssen, fünf Stunden, drei Latein, zwei Literatur, davon eine Stunde in der zwölften Klasse. Er würde die Bande gleich hart anpacken, das müsste am besten und richtigsten sein.“

Ebenfalls von Heinz Kruschel stammt „Die Rebellion der Franca Viola“. Es erschien erstmals 1969 als Heft 149 der Erzählerreihe des Deutschen Militärverlags Berlin: Franca und Luigi lieben sich und wollen heiraten. Der reiche und einflussreiche Fillipo, der zweifelhaften Geschäften nachgeht, bietet Luigi viel Geld dafür, dass er von Franca ablässt. Er und Francas Familie fallen nun mehreren Verbrechen zum Opfer, bis Fillipo Franca entführt und entehrt. So etwas gab es auf Sizilien noch nicht: Franca weigert sich, ihren Entführer zu heiraten und hat mit Unterstützung durch ihren Vater sogar Fillipo angezeigt, obwohl er die Macht der Mafia hinter sich hat. Hass schlägt ihr aber auch von den Frauen der Insel entgegen, weil sie ihr Schicksal nicht tragen will. Mit Hilfe der fortschrittlichen Kräfte und wirklicher Freunde entsteht eine starke Protestbewegung, die Franca hilft, die Anzeige nicht zurückzuziehen, obwohl ihr Leben und das ihrer Familie in großer Gefahr ist. Hier ein Ausschnitt, der klar macht, worum es geht:

Die Rebellion der Franca Viola

Die Sonne ging unter. Der Monte Sparagio warf seinen Abendschatten über den Ort.

Das Mädchen kam von den Weinbergen herab.

Ein Mann trat hinter den Aloezäunen hervor auf die schmale Straße, die sich den Berg hinaufwand.

Das dritte Mal schon, dachte das Mädchen. Hab’ ich ihm nicht deutlich genug gesagt, dass es keinen Zweck hat?

„Du bist schön. Franca“, sagte der Mann, „du wirst noch schöner werden, wenn du erst meine Frau bist.“

Franca schüttelte heftig den Kopf. „Quäle mich doch nicht. Ich habe dir gesagt, dass ich Luigi liebe …“

„Aber wir waren einmal versprochen …“

„Das ist lange her, Filippo. Damals war ich ein Kind, und mein Vater dachte …“ Sie stockte, sah den Mann an, bemerkte, wie seine Miene verschlossener wurde, böser, fordernder. Er war jung und straff, aber sein Gesicht wirkte alt. „Was dachte dein Vater, Franca?“ „Vielleicht dachte er, aus den beiden könnte mal ein Paar werden, nicht wahr, solche Gedanken machen sich die Eltern doch?“ Ich könnte ihm sagen, warum Vater die Verbindung gelöst hat, überlegte sie; aber ich wage es nicht, Filippo soll gewalttätig werden, wenn er die Nerven verliert; warum soll ich es auf die Spitze treiben, es ist kein Mensch in der Nähe, heute ist Markttag in Campotudia.

„Passt euch mein Lebenswandel nicht?“, fragte Filippo scharf.

„Ich weiß nicht, wie du lebst.“

„Man redet viel dummes Zeug über mich!“

„Ich kümmere mich nicht um das Gerede der Leute.“

„Na also“, sagte er, trat einen Schritt näher heran und umfasste das Mädchen. Franca bog den Kopf zurück und stemmte sich mit den Fäusten gegen seine Brust. Er lachte, er war stark, er küsste das Mädchen auf den Hals, Sie trat ihm mit dem Fuß gegen das Schienbein“ „Kleine Kröte“, sagte er, „aber du gefällst mir, so wie du bist …"

Sie erschrak. Sie fühlte die Gewissheit: Filippo Melodia ist ein Mann, vor dem man sich in Acht nehmen muss, sie durfte ihn nicht bis zum Äußersten reizen. „Bitte, Filippo“, sagte sie, „ich liebe Luigi, das habe ich dir schon oft gesagt.“

„Na und? Du weißt doch noch gar nicht, was Liebe ist, ich werde dich anbeten, Franca.“

„Ich will nicht.“

„Das wird sich ändern.“

„Nein.“

„Höre gut zu, Franca, ich bin nicht der Mann, der sich lächerlich macht. Ich habe das schon deinem Vater gesagt. Und ich lasse mich auch nicht von euch beleidigen.“

„Du verdrehst alles“, sagte sie, „niemand will dich beleidigen. Aber du kannst doch Liebe nicht mit Gewalt erzwingen!“

Er lächelte. „Ach Gott“, sagte er, „Liebe kommt später von allein, du bist kein kleines Mädchen mehr. Bei uns nimmt man sich die Mädchen, die man haben möchte, so viel solltest du wissen. Du wirst sehen, eines Tages entführe ich dich noch …“

„Ich muss gehen.“ Sie war voller Angst. Aber er ließ sie vorbei und sah ihr nach, wie sie den Hang hinunterlief. Mit der könnte man in eine große Stadt gehen und sich sehen lassen, dachte er, eine Figur hat sie. Aber ihr Vater hat sie zu viele Bücher lesen lassen, sonst wäre sie wie alle anderen, würde sich geehrt fühlen und sich nicht so zieren. Ich werde mir diesen Luigi vornehmen.

Markttag in Campotudia.

Die uralte Fatima röstete Würste aus Fleisch über dem offenen Kohlefeuer, Arbeitslose aus Turrumé Arcia verkauften Ginsterbesen, gesottene kleine Kürbisse und gekochte Polypen. Ambulante Barbiere boten ihre Dienste an. Der Drehorgelspieler diskutierte mit einem jungen Carabinieri, während er unentwegt weiterkurbelte und schwermütige neapolitanische Lieder über den Platz hallten. Ein Junge pries lautstark seinen gesammelten Unrat für die Gärten.

Luigi Trancomo fühlte sich in der Menge wohl. Fischgerüche kitzelten seine Nase, ein paar Café-Jungen liefen mit ihren großen Thermosflaschen über den Platz, und der Tombolaverkäufer, ein Kriegsversehrter mit Tapferkeitsauszeichnungen auf der Brust, rieft: „Kauft Billette, liebe Leute! Noch nie war die Gelegenheit so günstig! Die Sterne stehen gut! Heute gibt es Puppen und Wiegen und komplette Mahlzeiten zu gewinnen! Nur fünfzig Lire das Stück!“

„Gib mir die Siebzehn“, sagte Luigi zu ihm.

„Warum denn die Siebzehn? Vielleicht ist die schon weg…“

„Dann eben nicht.“

„Nun warte doch, da ist die Siebzehn ja noch. Warum willst du ausgerechnet die Siebzehn? Andere Zahlen sind auch sehr schön.“

„Na, rate mal.“

„Ist dein Mädchen vielleicht so alt?“

„Erraten.“

„Bei Santa Rosalia, setze nie auf ein Weib.“ Der Lottoverkäufer sah Luigi aufmerksam an und fragte: „Du arbeitest heute nicht?“

Im Steinbruch wird gesprengt“, sagte Luigi.

„Ich glaube, Alvarez will mit dir reden …“

„Was will er denn?“ *

Der Lottoverkäufer antwortete nicht, er überschrie schon wieder die Melodien der Drehorgel. „Bei der heiligen Santa Rosalia, beeilt euch, liebe Leute, es sind nur noch wenige Lose da, in einer Stunde wird Mutter Fatima die Glücksnummern ziehen!“

Luigi fand Alvarez vor dem Gafé Rosa: Der Krüppel saß, die Krücken neben sich, auf den steinernen Stufen und verkaufte aus einer zerbeulten amerikanischen Blechbüchse Blutegel an eine Tagelöhnerin. Luigi stellte sich zu ihr. Alvarez griente Luigi an, während er zu der Frau sagte: „Du musst sie ihm hinter die Ohren setzen. So wird dein Junge keine Hirnhautentzündung bekommen. Willst du die Egel bloß leihen oder kaufen? Kannst du sie selber melken? Sie lassen sich wieder verwenden, wenn du ihnen rechtzeitig das Blut abzapfst, aber es muss nach sechs Stunden geschehen, sonnst gerinnt es, und die Egel krepieren …“

„Ich möchte drei haben“, sagte die Frau schüchtern, „ich habe kein Geld, aber ich habe dir Kräuter mitgebracht, hundert Sträuße, eine ganze Tagesarbeit …“ Sie öffnete einen Sack und brachte gebündelten Fenchel, Kohl und Zichorie hervor.

„Wieder kein Geld“, maulte Alvarez

Das ist so gut wie Geld“, sagte Luigi, „du verkaufst sie doch im Handumdrehen …“

Alvarez warf die Bündel hinter sich. „Da, nimm schon“, sagte er zu der Frau, „und ich spreche ein Credo an das Herz Jesu, das das Übel wegnimmt.“ Er schob seine fleckige Schlägermütze in den Nacken und kratzte sich den Kopf.

„Du willst mich sprechen?“, fragte Luigi.

„Ich nicht“, sagte Alvarez und wies mit dem Daumen hinter sich, auf die Tür des Cafés Rosa, „geh nur ’rein, mein Junge, du wirst schon sehen …“

Luigi stieß mit dem Fuß die Tür auf. Im Café saß ein Liebespaar. An der Theke stand ein junger, geckenhaft gekleideter Mann und winkte Luigi zu. An seiner Hand blinkten Ringe. Er habe lange auf ihn gewartet, meinte der Mann, er habe mit ihm zu sprechen.

Luigi kannte den Mann. Jeder in Campotudia und in den Dörfern der Umgebung kannte ihn. Filippo Melodia gehörte zu den Leuten, die keine Arbeit hatten und denen es trotzdem gut ging. Früher beschaffte er Urkunden für Analphabeten, dann schmuggelte er ausländische Zigaretten. Das wusste jeder im Ort. Das wusste sogar die Polizei. Er fuhr mit einem Motorboot achtzig Meilen weit hinaus, wo die spanischen Schiffe vor Ustica ankerten, übernahm mit seinen Freunden die Kisten und brachte sie – ungeschoren vom Zoll – in den Hafen von Palermo. Die Polizei gehörte zu seinen Abnehmern. Das Geschäft brachte viel ein. Man munkelte über Melodia manches, aber man sprach nicht laut über ihn, die Menschen hatten Angst vor ihm und seinen Freunden.

Luigi konnte den Burschen nicht leiden. „Sprich schon“, sagte er.

„So trocken?“

„Ich habe wenig Zeit für dich.“

„Du wirst bald mehr haben. Was verdient man denn so in den Steinbrüchen?“

„Achthundert Lire.“

„Die Stunde?“

„Lass die Witze. Den Tag, das weißt du genau.“

„Ich schlage dir ein Geschäft vor. Ohne Umschweife und ohne Hintergedanken, ein sauberes Geschäft, bei dem du hunderttausend Lire bekommst, das ist reiner Verdienst …“

Luigi nahm die Zigarette nicht aus dem Mundwinkel. „Und was soll ich tun? Du verschenkst doch nichts."

Melodia lachte. Es wirkte nervös, dieses Lachen. „Eigentlich sollst du nichts tun. Das klingt komisch, was? Also was ist, schlägst du ein? Du gehst mit Franca Viola. Du hast nichts weiter zu tun, als die Finger von ihr zu lassen, verstanden? Es gibt viele Mädchen, du findest leicht wieder ’ne andre, besonders mit Hunderttausend in der Tasche. Du siehst Franca nicht wieder, machst Schluss mit ihr, das ist alles, was ich von dir verlange.“

Luigi drückte seine Zigarette aus, lächelte verächtlich und drehte sich um, aber Filippo packte ihn am Jackettärmel und sagte: „Lass deinen blöden Stolz, sag’ ich dir. Ich bin ihr seit Jahren versprochen, damals war sie dreizehn, da verlobten wir uns. Mit dem Segen der Eltern!“

„Jetzt hast du diesen Segen nicht mehr, der Alte hat das Verlöbnis gelöst, das weißt du …“

„Was schert mich der Alte, ich will das Mädchen. Ich will sie heiraten.“

„Dann sag ihr das doch.“ Luigi hatte Lust, dem Gecken die Faust ins Gesicht zu stoßen.“

Soeben erschienen ist als Eigenproduktion der EDITION digital „Herbst des Lebens. Betrachtungen über das Älterwerden“ von Renate Krüger: Das Alter kommt zwar von selber, aber die gute Bewältigung nicht. Es wird Zeit, über die Strukturen nachzudenken. Die Vorbereitung auf das Alter besteht nicht allein in der guten finanziellen Vorsorge, sondern mehr noch in der Einübung neuer Haltungen und Einstellungen, die alle etwas mit Abschied und Übergang zu tun haben. Das Alter ist ein wichtiger und bisweilen aufregender Lebensabschnitt. Nichts ist mehr so wie früher. Und doch laufen frühere Linien weiter, aber gewandelt, verändert. Den Gewinn hat der, der auch im Alter noch Neues entdeckt. Auch der älter gewordene Mensch hat noch vieles zu verwirklichen. Das Alter hält neue Chancen bereit. Alle Werte wollen noch einmal neu entdeckt werden, nachdem man gelernt hat, sie ohne Illusionen zu sehen. Das Alter ist jedoch nicht nur eine verlängerte Lebenszeit, sondern auch eine ganz eigene Daseinsform, die bewusst erwartet, gelebt, erlebt und ausgeschöpft werden kann und soll. Es ist eine wirklich übermenschliche Leistung, den Glauben an den Sinn bis zum Tode aufrecht zu halten. Wenn vom Alter die Rede ist, spricht man vor allem über Ernährung, Kosmetik und Sport, weniger über Haltungen, Einstellungen oder gar vom Selbstverständnis der Alten, von Sinnsetzung und Sinnfindung jenseits des Geldverdienens, jenseits der Existenzsicherung. Was bleibt dem Menschen am Ende des Lebens? Enttäuschung, Ernüchterung, Schmerzen – nur das? Nein, es gibt auch neue Aufbrüche, neue Impulse. Die Autorin hat im Alter von 80 Jahren kurzweilig und aus ihrer Lebenserfahrung heraus ihre lesens- und nachahmenswerten Gedanken zu diesem Thema zu Papier gebracht. Hier ein Textauszug, in dem sich die Autorin mit den Themen Täuschung, Enttäuschung und Wahrheit auseinandersetzt:

Jenseits der Täuschung

Das Alter ist eine Herausforderung in unvorhergesehenen Dimensionen. Bewährte Lebenssysteme brechen zusammen. Das Vakuum vergrößert sich. Die Einsamkeit nimmt bedrohliche Züge an. Rücksicht oder Dankbarkeit der Umgebung scheinen zu Fremdworten geworden zu sein. Es fällt schwer, ständig umzulernen. Alles ist anders und ganz und gar nicht so, wie man erwartet hat.

Dabei hatten wir gehofft, dass sich die Vergangenheit als wohlgefüllter Speicher erweisen werde, den wir in den ereignisärmeren Jahren des Alters öffnen und seinen Inhalt beliebig verwenden könnten. Doch immer wieder stellen wir fest, dass sich dieser Speicher nicht öffnen lässt, und wenn, dass sich sein Inhalt oftmals als belangloser Tand erweist, mit dem wir keinen Eindruck mehr machen können. Wen interessieren schon die vergangenen Erlebnisse, Erfahrungen, Wertungen? Eine neue Enttäuschung – die Vergangenheit ist nicht so einfach verfügbar …

Die Altersphase wird oft als ein erstrebenswerter Gipfel angesehen, der endlich einen umfassenden Blick auf das Lebenswerk, auf die Ernte des Lebens erlaubt. Vielfach gilt dieses Lebenswerk als Maßstab von Erfolg und Effektivität, der sowohl überschwängliches Hochgefühl, als auch tiefste Niedergeschlagenheit auslösen kann und somit den späten Lustgewinn nach oben oder nach unten steuert. Das Bild, das man sich gemacht, mit dem man gelebt hat, war falsch …

Die Arbeit an den inneren Bildern ist ein lebenslanger Prozess, man sollte damit nicht erst im Alter beginnen. Manche vermögen Bilder nur statisch wahrzunehmen, andere sehen auch Entwicklungen, Dynamik, Bewegung. Manche Menschen haben keinen Sinn für den Alltag mit seinen Kleinigkeiten und Mühseligkeiten, rechtfertigen das immer mit den großen Bildern, mit den eleganten Entwürfen und schleppen sich an solchen Entwürfen und Bildern zu Tode. Je schöner und größer die Bilder werden, die der Mensch sich macht, desto falscher und belastender können sie sein … Jenseits dieser schönen Bilder dominiert die unerbittliche Realität.

Bilder haben in jedem Menschen eine lange Geschichte. In dieser Geschichte liegt Sinn, der sich in der Rückschau offenbart und noch immer Kraft spendet. Aber die Bilder verblassen zusehends und scheinen selbst in ein Vakuum zu fallen. Die schönen Bilder vergehen. Muss dieser Prozess immer nur zu totaler Ernüchterung, schmerzlicher Desillusionierung und zur harten, scheinbar unliebenswürdigen Realität des Alltags mit seinen Kleinigkeiten führen?

Es gibt Situationen im Leben, in denen nichts, aber auch gar nichts zu stimmen scheint. Es gibt keine Harmonie, kein Ziel, keinen Impuls, nur hier und da ein kleines Aufblitzen. Die Zeit läuft hin. Vieles von dem, was wert und teuer erscheint, ist nur Illusion, von der man sich trennen muss, ohne dass die Illusionslosigkeit als erstrebenswertes Ziel oder als Rettung erscheinen müsste. Die Illusionslosigkeit als absolute Wahrheit, als Raum, in dem man ganz ehrlich zu sich selbst sein kann, ist ja auch nur eine Illusion … Psychologie allein genügt nicht.

Vor der ersehnten neuen Hoffnung steht die Desillusionierung, der bewusste Abschied von den Bildern, als Prüfung und Preis für den Eintritt in die Altersphase. Wir sehen uns wieder einmal ganz am Anfang, und die bisherigen Erfahrungen helfen nicht. Eine große Sehnsucht bricht auf, nämlich endlich die innere Zerrissenheit aufgeben zu können und zur Ruhe zu kommen, nicht mehr von einer Illusion zur andern rennen zu müssen. Das Leben schäumt und brodelt auch weiterhin nach allen Seiten, und wir müssen mit unseren Kräften haushalten und dürfen nicht mehr jeden Impuls aufnehmen.

Schwer ist die Aufgabe der Ent-Täuschung, das Zurechtrücken der vertauschten Elemente, ja eines Bildersturmes als innere Arbeit. Viele dieser großen Bilder waren trotz ihrer Größe und Schönheit zugleich die engen Gefängnisse des bisherigen Lebens … Das Gefängnis: das ist oftmals die Summe der festgefahrenen, verkrusteten „Lebenserfahrungen“. Es gilt, die Gefängnismauern und -gitter zu überwinden und niederzureißen, um das wirkliche Haus dahinter sehen zu können. Der Abschied von Klischees, von bleischweren Illusionen, von falschen Hoffnungen, von der aus Angst geborenen Ichbezogenheit, von Folterwerkzeugen, die man immer wieder selbst blank geputzt hat, ist unumgänglich.

Wie schnell kapseln wir uns gerade im Alter gegen die Außenwelt ab, aus Angst, beeinträchtigt, gestört, provoziert und gekränkt zu werden. Von dieser Angst ist kein Bereich ausgenommen. Und immer wieder jagen wir Illusionen nach und verpassen dabei die umfassende Wahrnehmung der Gegenwart.

Mit unserem verengten Blick sehen wir nur, dass die gegenwärtige Situation so ganz und gar nicht dem „erfüllenden“ Denken entspricht, dass sie nicht das erhoffte Ziel, der endlich erreichte Ausgleich, die große Gerechtigkeit ist, sondern „nur“ eine Etappe auf einem langen Weg, angesichts dessen sich Ermüdungserscheinungen eingestellt haben.

Wunderliche dumme Kreatur Mensch … Ob es vielleicht doch noch gelingt, sich von dem „Alles oder Nichts“ der Fixierung auf ein Ziel zu lösen, wie man sie ein Leben lang eingeübt hat? Auf eine neue Wohnung. Auf den Abschluss einer Arbeit. Auf eine Begegnung. Eine Reise. Eine Zahlung. Im Alter bringt das alles nicht mehr den erhofften Gewinn.

Alles ist ganz anders – totaliter aliter … Diese Erfahrung ließ der Romancier Thomas Mann auch Charlotte Buff machen, seine „Lotte in Weimar“, eine Jugendliebe Goethes. Ihre Reise in die Vergangenheit wird zu einer totalen Desillusionierung. Charlotte Buff wird zwischen Bewunderung, Rebellion und Veränderungswunsch hin und her gerissen. Völlig verwirrt reist sie ab. Das Lebensmodell Goethe hat versagt. Aus dem Werther ist der Olympier geworden, der nur noch druckreif redet.

Die Vergangenheit verliert nicht nur bei Charlotte Buff an Bedeutung, wird fremd und verliert den vertrauten Klang. Fremdheit aber schafft auch neue Möglichkeiten, macht positive Signale sichtbar. Der alte Kosmos stimmt zwar nicht mehr, alles scheint wieder in Unordnung geraten, aber aus diesem neuen Chaos können neue Vertrautheiten wachsen.

Vor allem eins fällt weg: der Wettbewerb, das Konkurrenzdenken, und als eine der Voraussetzungen dazu das ständige Vergleichen, das Bewerten anderen Verhaltens, um sich selbst als Sieger zu fühlen. Objektiv trifft das zu, aber subjektiv nicht. Im Alter flicht man an besonders dicken Zöpfen, hat es mit besonders tief eingefahrenen Rillen zu tun. Das Maß an innerer Arbeit wird eher größer als kleiner.

Damit ist nicht die immer weiter gehende Rationalisierung und Optimierung des Lebens gemeint, von denen ganze Branchen mit ihren Beratungssystemen leben. Lebensoptimierung verleiht Macht. Berater haben Macht, und Beratungsbedürftige machen sich abhängig. Das Leben fließt. Der Fluss kann durch Kanalisierung gefördert, er kann dadurch aber auch zur Abflussrinne des Lebens werden.

Das biblische Buch Kohelet enthält im Zusammenhang seiner Lehre vom Kosmos und vom Menschen eine umfangreiche Aufzählung von Aussagen, aus denen viele einen pessimistischen Unterton herausgehört haben. Was auch dem Menschen immer ein Wert sein kann: Windhauch, Windhauch, sagt Kohelet, das ist alles Windhauch … Es ist nichts … Bei näherer Prüfung aber erweist sich das Bild vom Windhauch, von der leisen Luftbewegung, als Werkzeug der Desillusionierung, der überwundenen Täuschung, Ernüchterung und Wahrheitsfindung, als Weg zu Gelassenheit und Weisheit.

Wenn der Mensch gelernt hat, dass er keine Institution, kein ehernes Denkmal sein muss, wenn er gelernt hat, dass er nichts mehr investieren muss, um die Daseinsberechtigung einer Institution zu beweisen, wenn er keine Minderwertigkeitskomplexe aus seinem Defizit an Institution mehr haben muss, dann endlich wird es leichter, als Mensch zu leben, nur als Mensch.

Vielleicht ist das eine notwendige Alterserfahrung: Nichts wird abgeschlossen, ohne dass sich eine neue Möglichkeit anbietet. Bisweilen entdecken wir unvermutet andere Kräfte und Reserven, aus denen wir leben können. Wir können zu größerer Gelassenheit finden, weil wir so vieles gelassen haben. Vielleicht können wir sogar noch den Hass und das Unmutsgefühl gegenüber weiten Abschnitten der Vergangenheit lassen, Abschied nehmen auch von den Feindbildern der Vergangenheit.

Was bleibt dem Menschen am Ende des Lebens? Enttäuschung, Ernüchterung, Schmerzen – nur das? Nein, es gibt auch neue Aufbrüche, neue Impulse. Das Leben ist fließender Wandel, ständige Veränderung. Jenseits der Täuschung beginnt die Wahrheit. Und mit der Wahrheit lebt man besser …“

Erstmals 1989 veröffentlichte Renate Krüger im Union Verlag Berlin ihre Literarische Reportage „Doberaner Maßwerk – Einsichten und Sehweise“: Nur noch wenige Augenblicke, dann werden die Besucher und Touristen wieder ins Münster strömen. An der Kasse wird sich eine Schlange bilden, und die Führer sammeln ihre Gruppen. Der Sommer an der Küste ist kurz und intensiv. Wir wollen sehen, genießen, erleben. Fast alle, die das Münster umkreisen, haben einen Fotoapparat bei sich, sind auf der Suche nach dem Punkt, von dem aus man das Ganze erfassen könnte, die Gesamtaufnahme. Sie ist schwierig genug, nicht nur technisch. Es scheint erstrebenswert: das ganze Münster zum Mitnehmen! Vielleicht ist es möglich, wenn Umschreiten und Eintreten einen anderen Sinn erhalten als Vereinnahmen, Inbesitznehmen. Renate Krüger versucht die Annäherung an das bedeutende Bauwerk der norddeutschen Backsteingotik auf ihre Weise. Sie vermittelt „Einsichten und Sehweise“, die über das bloße kunstästhetische Erleben, aber auch über die kunstwissenschaftliche Darstellung hinausgehen. Sie plädiert für eine sensible Bereitschaft, mit Bedacht einzutreten und zu sehen, um die Kunstwerke der Vergangenheit zu erleben und verstehen zu lernen. In ihrer literarischen Reportage fügt sie kunsthistorische Betrachtung, Reflexion, Meditation und fantasievolle Legendenbildung zu einem lebendigen Bild der wechselvollen Geschichte des Doberaner Münsters von der Gründung bis zur Gegenwart. Hier ein Beispiel für die ganz besonderen Annäherungen von Renate Krüger an das Doberaner Münster, für ihre Sichten und Einsichten:

Eintreten.

Das Kircheninnere. Ich nehme mit vollem Bewusstsein wahr, wie das Licht an diesen sonnigen Herbsttagen durch die ganze Kirche wandert.

In aller Frühe beginnen die Ostfenster zu leuchten, dann zu strahlen. Das Licht ist mächtig und klar; es verschleiert sich nicht. Nach und nach legt es sich auf die Nordflächen, die Wände, die Pfeiler. Die Südwand taucht in rötliches Dunkel.

Am Nachmittag kehrt Poesie ins Münster ein. Aus den Gewölben entfalten sich bläuliche Schleier und lassen sich tief herabhängen. Die niedrige Sonne bricht in die Westfenster ein und gewinnt an roter Glut.

Das Münster ist immer noch und einmal wieder Baustelle. Diesmal geht es nicht nur um die notwendigen Reparaturen, sondern man spürt auch der alten Struktur nach. Schon früh ist sie so stark überlagert worden, dass sich ihre Dynamik und Eigengesetzlichkeit nicht entfalten konnte. Jetzt wird der Zustand der Entwurfsidee wiederhergestellt. Das große Kreuz ist schon von der Wand abgerückt worden. Korrekturen sind immer notwendig und möglich, auch ohne die Kontinuität zu zerstören. 25 Menschengenerationen haben hier ihre Überzeugungen und Maßstäbe in leicht auffindbaren oder verborgenen Spuren hinterlassen und weitergegeben. An einem solchen Bauwerk wird Dauer sichtbar, die auch von starken Einbrüchen nicht eigentlich unterbrochen wurde, menschliche Dauer.

Im Anfang war das Wort von Reform und Erneuerung. Der Doberaner Beginn stand im Zeichen einer Alternativbewegung, ausgehend von der Mönchsgruppe um Bernhard von Clairvaux. Als Zweiundzwanzigjähriger war der um 1090 bei Dijon geborene Sohn burgundischer Edelleute in das Reformkloster Citeaux eingetreten, das damals erst 15 Jahre bestand. Er kam nicht allein, er brachte Gleichgesinnte mit, darunter seine vier Brüder. Schon zwei Jahre später wurde er zum Abt des neu gegründeten Klosters Clairvaux gewählt, und von hier aus gründete er nicht weniger als 67 Klöster im romanischen Raum, in England, Irland, Schweden und Deutschland.

Das Wort von Reform und Erneuerung des Christentums schwoll mächtig an und fand nicht nur offene Ohren, sondern auch wanderbereite Füße und tatkräftige Hände. Die neuen Mönchsgemeinschaften der nach dem Mutterkloster Citeaux so genannten Zisterzienser sorgten nicht nur für die Verbreitung, sondern auch für die Entfaltung des Wortes, das zu verkünden der Abt Bernhard nicht müde wurde, sodass sich später für das zweite Viertel des 12. Jahrhunderts der Begriff des bernhardinischen Zeitalters einstellte. Das sich erneuernde Mönchtum richtete sich am Ideal der Nachfolge Christi und der Apostel aus, seine Verkündigung bediente sich vor allem des geschriebenen Wortes und des eigenen Beispiels.

Die Botschaft Bernhards sprengte herkömmliche Begrenzungen, sie drängte nach außen und führte doch zur Verinnerlichung. Sie ist das Gesetz, nach dem das Kloster Doberan am Ende des 12. Jahrhunderts antrat. Drei Jahrhunderte blieb bernhardinischer Geist in Doberan lebendig, wenn auch nicht ungebrochen.

Was für ein Mann war Bernhard?

Ein Charismatiker, ein Mensch mit einer unausweichlichen persönlichen Ausstrahlung, von glühender, mitunter schwärmerischer, meist stark gefühlsbetonter Geistigkeit, und doch ein befähigter, weit vorausblickender Organisator, lebenslang krank und doch von unermüdlichem Eifer. Ein Prediger für die Kreuzzüge, in deren Verlauf sich die Kreuzträger mit schwerer Schuld beluden. Ein Mystiker, der sich besonders in die Verehrung der Menschheit Christi und in die Brautsymbolik vertiefte. Ein Mensch von reichen Gaben.

Seine Sprachgestalt ist von Bibel und Liturgie geprägt, verrät aber auch die Kenntnis der lateinischen Klassiker Cicero, Horaz, Juvenal und Persius. Diese Hinwendung zum Altertum wirkt wie eine erste zarte Morgenröte der Renaissance.

Bernhard war es auch, der die Marienverehrung zu ihren Gipfeln führte und somit der Frömmigkeit einen weiteren Gefühlsbereich erschloss.

Immer wieder bat man ihn um den Dienst im Bischofsamt, vergeblich, er schlug die ihm angebotenen Bischofsstühle von Mailand und Genua aus und wirkte weiterhin aus dem Kreis seiner Mönche heraus. Seine Beziehungen reichten in alle Zentren der damaligen Welt. Im Kloster Cluny fand er einen ebenbürtigen Partner in Petrus Venerabilis. Einen ähnlichen Gedankenaustausch pflegte er mit dem Kloster Premontre, aus dem der Prämonstratenserorden hervorging, und mit dem Stift St. Victor in Paris. Er war gefragter Berater von Päpsten und Fürsten. In der ungeheuren Spannung, in die er sich hineingestellt sah, empfand er sich als Chimäre seines Jahrhunderts, nicht ganz Mönch, nicht ganz Ritter. Andere bezeichneten ihn als ungekrönten Papst und Kaiser.

Bernhard starb 1153 und wurde im Jahre 1174 heiliggesprochen, hoch verehrt als Doctor mellifluus, als Lehrer, dem die Rede wie süß fließender Honig über die Lippen kommt. In der bildenden Kunst wurde er häufig mit einem Bienenkorb dargestellt.“

Schon dieser Ausschnitt zeigt, dass es Renate Krüger um viel mehr ging als um einen flüchtigen Besuch in Bad Doberan, sondern um eine Gesamtaufnahme des Münsters. Und vielleicht macht ihr Buch ja auch Ihnen Lust, dorthin zu fahren und eine eigene Annäherung an dieses Bauwerk zu wagen.

Lesens- und bedenkenswert sind aber auch ihre Betrachtungen über das Älterwerden und im weitesten Sinne über das große menschliche Thema Lebenskunst.

Spannende Lektüre versprechen außerdem die beiden Texte von Heinz Kruschel und der aktuelle Titel zu Friday for Future von Dietmar Beetz.

Viel Spaß beim Lesen, einen schönen Februar und bis demnächst.

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