Heute möchten wir Sie zu einer Zeitreise einladen – zu einer Zeitreise durch eine Ehemalige, die ehemalige DDR, die es nun schon ziemlich lange nicht mehr gibt. Aber es gibt Erinnerungen, ganz persönliche Erinnerungen und literarische Erinnerungen, so wie die Bücher von Günter Görlich zum Beispiel, einem der bekanntesten Autoren und Kulturfunktionäre des untergegangenen Landes. Sein erstes Buch war 1957 erschienen und es ist zugleich das zweite der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 01.07. 22 – Freitag, 08.07. 22) zu haben sind. Görlichs erstes Jugendbuch, das übrigens gleich im folgenden Jahr mit dem Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur der DDR ausgezeichnet wurde, hieß „Der schwarze Peter“. Und das war durchaus doppeldeutig gemeint.

In „Der Fremde aus der Albertstraße. Eine abenteuerliche Geschichte für Mädchen und Jungen“ von 1966 geht es um eine Schneeballschlacht zwischen zwei fünften Klassen und um eine immer wieder verzögerte Entschuldigung.

In „Autopanne“ von 1967 passiert dem „Rasenden Reporter“ und Junggesellen Georg Bannert eine eben solche und eine journalistische Panne dazu. Zugleich liefert das Buch ein nicht geschriebenes Porträt einer starken Frau und erinnert nicht zuletzt an ein berühmtes Buch von August Bebel.

Ein halbes Jahrhundert her war 1968 der Kieler Matrosenaufstand – wir erinnern uns vielleicht noch irgendwie dunkel an die beiden Matrosen und Anti-Kriegsaktivisten Max Reichpietsch und Albin Köbis -, und Görlich nahm sich dieses historischen Themas in „Der verschwundene Schiffskompass“ auf eigene, originelle Weise an und versuchte es in die (damalige) Gegenwart zu hieven: André und Marina werden in einer wichtigen Angelegenheit zu kleinen Detektiven …

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder einmal geht es um ein Thema, das leider aktueller ist als man noch vor wenigen Wochen geglaubt hätte. Und wieder interessiert uns die Frage der Hintergründe: Wie und weshalb eigentlich kommen Menschen auf den Gedanken, auf andere Menschen schießen zu wollen oder zumindest schießen zu sollen? Wie kann der Krieg für junge Menschen zur Selbstverständlichkeit werden, wie es gleich im ersten Satz des heute vorgestellten Buches heißt? Und wie eben nicht – keine Selbstverständlichkeit, sondern im Gegenteil eine Unselbstverständlichkeit, ein Unding?

Als Nr. 159 seiner Erzählerreihe druckte der Deutsche Militärverlag erstmals 1970 „Das Moor schweigt“ von Heinz Kruschel – ein Auszug seiner längeren Erzählung „Das Kreuz am Wege“: Minus 17 Grad zeigt das Thermometer. Aber das Wasser im Bach fließt schnell, und deshalb ist es noch nicht zugefroren. Also lassen die Ausbilder von der SS-Division „Totenkopf“ die jungen Soldaten in eben diesem Bach eine Stunde lang marschieren. Zur Abhärtung, wie sie sagen. Fünf Jungen aus der 6. Schule sind unter den so Geschundenen: Hans Pohnert, der die Penne satt hat und noch den Krieg erleben will, Jonny Renkel, der schnellste Läufer der Schule, Kalle Kozruk, der stiernackige Stammführer, der schon zweimal hängengeblieben war, Manne Hausmann, der schmalgliedrige Primus der Klasse, und Sohne Schwerdtmenger, dessen Vater in einem Strafbataillon sein soll.

Sie und ein paar alte Volkssturmmänner bilden einige Wochen später einen sogenannten Panzervernichtungstrupp, der in Wurmfing stationiert ist. Der einarmige Leutnant Wenzlau führt sie. Ihr Tagesablauf ist monoton: Hinweis- und Wegeschilder umstecken, um die Truppen der Alliierten, die täglich anrücken können, ins Moor zu führen, Sperren und Minenfelder legen und auf den Einsatz warten. Werden sie den erleben, um den Krieg noch weiter als fünf Minuten nach zwölf zu führen? Und so beginnt dieses Anti-Kriegs-Buch:

1. Kapitel

Der Krieg war für Hans Pohnert eine Selbstverständlichkeit. Solange er bewusst denken konnte, gab es nichts anderes, und so war das Umstecken der Fähnchen auf der Landkarte im Klassenzimmer eine tägliche Gewohnheit. Auch der knappe Raum, den die Reste der deutschen Armeen in diesen ersten Tagen des Jahres 1945 noch verteidigten, ließ in Pohnert nicht den Gedanken an eine Niederlage aufkommen.

Um Berlin würde sich der Krieg entscheiden, denn Berlin bleibt deutsch. Wien wird wieder deutsch, Europa wird niemals russisch, hatte der Propagandaminister gesagt.

Hans Pohnert war froh, als im Januar der Befehl kam, sich im Wehrertüchtigungslager zu melden, denn die Schule ödete ihn an und die Pauker schon lange.

„Pickel“ Kerze, der alte, glatzköpfige Rektor, hatte die fünf Jungen mit bewegten Worten verabschiedet: Jonny Renkel, der der schnellste Läufer der Schule war, Kalle Kozruk, den stiernackigen Stammführer, der schon zweimal hängen geblieben war, Manni Hansmann, den schmalgliedrigen Primus der Klasse, Sohne Schwerdtmenger, den sie manchmal böse „Bolschewik“ nannten, weil sein Vater in einem Strafbataillon sein sollte, und Hans Pohnert, den blonden Angestelltensohn, der die Penne satthatte und den Krieg erleben wollte. Sie hatten nicht einmal zugehört, der alte Rektor interessierte sie nicht mehr.

Im WE-Lager ging es hoch her. Ausbilder der SS-Division „Totenkopf“ brachten ihnen Handkantenschläge und Mutsprünge, Jiu-Jitsu-Griffe und Anschleichen bei, sie wurden an Panzerfäusten und Handfeuerwaffen ausgebildet. Nicht alle überstanden es gut.

Nach einem einstündigen Marsch im fließenden Wasser eines kleinen Baches bei einer Außentemperatur von minus 17 Grad war das Revier am anderen Tage so voll, dass der Sankra einige Dutzend ins Krankenhaus fahren musste.

Aber die Jungen aus der 6. Schule hielten durch. Auch Manni Hansmann, der der anfälligste war und den seitdem ein furchtbarer Husten quälte. Dann kam die Abkommandierung zum Werwolf. Die Klassenkameraden blieben zusammen.

Die Apriltage in Wurmfing waren blau und hoch, sodass täglich mit dem Einflug von Bomberverbänden gerechnet werden konnte. Sie kamen auch täglich, es gehörte zum Tagesablauf. Und der war monoton: Hinweis- und Wegeschilder umstecken, um die Amis ins Moor zu führen, Sperren und Minenfelder anlegen und auf den Einsatz warten.

Sie waren nicht viele: die fünf Jungen, alte Volkssturmmänner aus der Umgebung, einige Reservisten, die nicht mehr voll einsatzfähig waren. Leutnant Wenzlau, ein junger, blasser Offizier, führte die kleine Truppe. Er trug immer einen eleganten grauen Mantel, dessen rechter Ärmel angesteckt war — während der Rückzugskämpfe in einer russischen Stadt hatten sie ihm den Arm abgeschossen. Außerdem hatte er noch einen gefährlichen Lungensteckschuss, dessen Splitter nicht entfernt werden konnten. Er war verbittert, wusste, dass er bald sterben musste, und hatte nur den einen Wunsch, möglichst viele Gegner mit in den Tod zu nehmen.

Sein Stellvertreter war der Ortsgruppenleiter Kochne, ein Bauer in brauner Uniform mit gelben Spiegeln. Er hatte den größten Hof im Ort.

Die fünf Jungen waren in der Waschküche des Gastwirts untergebracht. Der Gastwirt war ein hagerer Mann mit eingefallenem Brustkorb und überschmalen Händen. Schwindsucht, munkelte man im Dorf. Darum sollte er nicht eingezogen worden sein, aber er stand sich auch gut mit dem Kochne-Bauern, dem alten Kämpfer, und der konnte manches regeln mit seinem Einfluss.

Die beiden hockten oft stundenlang zusammen und standen nicht eher auf, bis sie die Buddel ausgetrunken hatten. So war es auch an diesem Frühlingstage des Jahres 1945.

Als der Wirt draußen auf der Straße die Werwolfgruppe vorüberlaufen sah, Panzerfäuste in den Händen, sagte er zum Kochne-Bauern: „Meinst du, dass die es schaffen werden?“

Der Bauer kippte den Schnaps hinunter und rückte ein Stück näher, obwohl diese Vorsicht übertrieben war, denn in der Schankstube befand sich kein Mensch, nur die Schwester des Wirtes hantierte in der Küche. Aber die hörte nicht zu. Sie war ausgebombt und hatte in Magdeburg bei einem Luftangriff ihren zehnjährigen Jungen verloren. Nun lebte sie mit der Tochter hier. Beide halfen in der Wirtschaft, mehr geduldet als gern gesehen.

„Was heißt schaffen?“, brummte Kochne, „wir lassen die machen und halten uns ‚raus. Adolf hat sich übernommen, er konnte sich auch nicht auf alle verlassen und hatte schlechte Berater. Ich habe keine Lust, in den letzten Minuten ins Gras zu beißen. Man muss versuchen, von einem Kahn auf den andern zu springen und dabei nicht ins Wasser zu fallen. Da kommt es auf einen Moment an, verstehst du, auf eine Sekunde vielleicht, sonst kann es zu spät sein!“

„Aber diese Sekunde, der Moment … Wie willst du denn wissen …?“, stotterte der Wirt, noch verblüfft über die Worte des Freundes, die heute anders klangen als sonst.

Der Kochne-Bauer antwortete nicht. Er starrte ins leere Glas, nahm es in die Hand und stülpte es um.

Miltenmichler verstand. „Martha!“, rief er. „Martha, .bring uns noch eine Flasche!“

„Überlass das nur mir“, sagte der Bauer kurz und musterte aus zusammengekniffenen Augen das Mädchen, das in die Schankstube trat und mit einem heftigen Ruck die Flasche auf den Tisch stellte. Es war die Tochter der Schwester, Christine. Sie war achtzehn Jahre alt, hatte Augen wie tiefbraune Mandeln, schmale Hüften und spitze Brüste.

„Deine Mutter hatte ich gerufen. Bist du schon zurück?“, fragte der Wirt säuerlich.

Christine trat zum Fenster. „Sie lassen uns nicht mehr ‚raus. Alle Straßen sind gesperrt, ich bin nur bis zur Kreuzung gekommen. Wir müssen eben einkaufen, wenn wieder Ruhe ist. Lange kann es nicht mehr dauern!“

Der Ortsgruppenleiter stand auf und trat breitbeinig vor sie hin. „Was soll das heißen?“, fragte er langsam und drohend. „Was soll das heißen?“, wiederholte er seine Frage. Seine Hände umspannten die nackten Oberarme Christines. Sie blieb unbeweglich stehen.

„Das soll heißen, dass der Onkel seine Futtermittel zurzeit nicht bekommen kann, weiter nichts. Die Gründe sind wohl bekannt“, sagte sie ruhig.

„Und sonst?“ Kochne ließ den rechten Arm los und versuchte, nach ihrer Brust zu greifen, aber da drehte sich das Mädchen mit einer schnellen Bewegung weg und sah ihn spöttisch an.

„Sonst werden es die da schon machen und den Ami zurückwerfen“, sagte sie und wies zum Fenster hinaus.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1957 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Der Schwarze Peter“ von Günter Görlich: Peter hat keine Eltern mehr und lebt mit seiner Großmutter in Berlin. Gemeinsam mit seinem Freund Ente sucht er in den Bombentrümmern nach Verwertbarem, das er auf dem Schwarzmarkt verkaufen kann. Und beide klettern auf Kohlenwagen. Sie stehlen, damit sie im Winter nicht erfrieren und nicht mehr zu hungern brauchen. Doch Großmutter ist alt und krank und bleibt lange im Krankenhaus. Die Jugendhilfe schickt ihn in ein Kinderheim, in dem sich Peter allmählich wohlfühlt und Freunde findet. Als Großmutter endlich wieder nach Hause kommt, zieht Peter dann jedoch wieder zu ihr und findet in Berlin neue Freunde. Immer noch gibt es in den Ruinen Buntmetall, das sich in Westberlin gut verkaufen lässt. Es zieht ihn auch immer wieder zu Lola. Deren Freunde verwickeln Peter wieder in schmutzige Geschäfte, auch als er längst wieder in der DDR im Jugendwerkhof lebt. Findet er den Mut zur Wahrheit? Das Buch beginnt mit einer kleinen Überraschung – zumindest für den zwölfjährigen schwarzen Peter und seinen Freund Rudi, wegen seines watschelnden Gangs „Ente“ genannt, ein Jahr älter als er:

Erster Teil

Genosse hat mir Ente weggenommen

Der Wind weht kalt und treibt graue Wolken über das weite Trümmerfeld. Ich hocke im Kellereingang und warte auf Ente. Ente ist gegangen, um Paul abzuholen.

Draußen wird es dunkel. Es regnet.

Im Keller quietschen Ratten, und ich habe vor ihnen Angst. Die Ratten sind fett und guter Dinge, weil in den Ruinenkellern noch viele Leichen liegen.

In meiner Nähe kollern Steine; Ente tappt vorsichtig die Stufen herunter.

Träge schüttelt er die Nässe aus den Kleidern; seine Hände und Lippen schimmern blau vor Kälte. Er sieht mich missmutig an und kneift die Augen zusammen.

„Paule kommt nicht“, sagt er.

„Ist er krank?“

Ente schüttelt den Kopf und spuckt aus. „Er macht nicht mehr mit.“

Er setzt sich neben mich und erzählt:

„Ich hatte kaum an die Wohnungstür geklopft, da öffnete ein Mann. ,Willst wohl Paul abholen?‘, fragte der und kam ganz dicht an mich ran. ,Mach, dass du wegkommst; mit der Klauerei ist jetzt Schluss‘, drohte er. Da bin ich natürlich abgehauen. Im Flur hing ein blauer Rock. Der Alte ist bestimmt zur Polizei gegangen.“

Ich beiße die Zähne aufeinander, dass es knirscht.

Paules Vater ist erst vor ein paar Tagen nach Hause gekommen, weiß der Kuckuck, woher. Bis jetzt ging alles in Ordnung. Seine Gören hatten eine warme Bude und was für den Magen. Nun ist er gekommen und sofort Polizist geworden. Da haben sie das nicht mehr nötig. Die Polizeileute bekommen sicher Zuteilung.

Paul kommt also nicht mehr. Der Feigling hat sich rumkriegen lassen. Zu Ente kann ich aber nicht sagen, was ich so denke. Wir sind nur noch zwei, und wenn ihm auch so etwas einfallen sollte …

Ente lehnt mit dem Rücken an der Mauer und döst vor sich hin. Manchmal schüttelt er sich, weil er friert.

Ich brauche keine Angst zu haben. Bei Ente kann kein Vater kommen und schnell Polizist werden. Entes Vater haben sie im Krieg totgeschossen.

Ich hänge Ente meine Joppe um. Sie ist warm und reicht fast bis zu den Waden wie ein Mantel. Die Ärmel hat Großmutter umgenäht. Die Joppe hat einen Zentner gute, glänzende Steinkohle gekostet.

Ente wird wieder fröhlich. Aus der Hosentasche angelt er sich einen Zigarettenstummel. Er meint, wenn man raucht, und wenn es nur eine Kippe ist, spürt man den Hunger nicht so sehr. Ich glaube das nicht. Soll er rauchen; er ist ein Jahr älter als ich, er ist schon dreizehn.

Vielleicht werde ich später auch rauchen.

Ente ist schnell zufrieden und macht auch alles mit, wenn er nur nicht seinen Kopf anzustrengen braucht. Ich muss immer alles ausknobeln.

„An die Bunker kommen wir nicht ran, dort schnüffelt zu viel Polizei mit ihren Hunden herum“, sage ich.

Ente brummt undeutlich.

„Wir müssen das anders anstellen“, sage ich für mich.

Ente zieht an seinem Stummel und antwortet nicht.

Da werde ich böse.

„Los, wir hauen ab!“

Ich habe mir schon alles ausgedacht. Auf dem hohen Bahndamm steht das Hauptsignal. Die Kohlenzüge fahren an dieser Stelle langsam und müssen fast immer vor dem Signal halten. Ich werde auf einen Waggon klettern und die Kohlen hinunterwerfen. Ente wird sie sammeln.

Wir laufen los. Inzwischen ist es stockdunkel geworden, und der Regen sprüht fein und gleichmäßig.

Ich habe meine Joppe wieder an. Ente hat sich einen Kohlensack über die Schultern gelegt. Die Ohrenklappen seiner Russenpelzmütze hat er nach unten gezogen. Er watschelt ein bisschen beim Laufen, darum rufen wir ihn auch „Ente“. Richtig heißt er Rudi.

Die Ruinen reichen bis zu den Bahnschienen, und das ist für uns sehr günstig.

Ich bin ein bisschen neidisch, weil Ente die schöne warme Pelzmütze hat. Er erzählte, dass er sie einem toten Russen vom Kopf genommen hat. Das ist bestimmt geflunkert.

Bald ist Weihnachten. Vielleicht kaufe ich mir dann eine auf dem schwarzen Markt. Großmutter müsste auch eine haben. Dann sieht Großmutter aus wie ein Russe.

Ganz in unserer Nähe poltert es dumpf.

„Oh, verflucht!“, sagt Ente und hält sich an mir fest.

Was ist denn schon? Bei dem Wind fallen die verkohlten Häuser zusammen. Wir laufen weiter.

Die Signallampen leuchten rot und grün. Ich und Ente liegen am Hang des Bahndammes und warten. Über die vielen Schienen sind wir gut hinweggekommen, wir trafen keine Polizisten. Die sind mehr in der Nähe des Bunkers oder hocken bei diesem Wetter in ihrer warmen Wächterbude. Der Regen ist schwächer geworden. Das alte Gras fühlt sich stachlig und feucht an.

Wir warten und frieren. In der Tasche habe ich noch eine Scheibe Röstbrot. Außen ist sie hart und knusprig, innen aber weich und klebrig. Großmutter gab sie mir, ehe ich ging. Ich fange an zu kauen. Neben mir seufzt Ente. Ich breche die Röstbrotscheibe in der Mitte durch und gebe ihm die eine Hälfte.

Wir haben vier große Säcke mit, denn wir haben uns heute allerhand vorgenommen. Manchmal müssen wir für ein einziges Brot einen halben Zentner Kohle opfern. Das sind so die Preise auf dem Markt; man darf sich aber nicht übers Ohr hauen lassen.

Ente meint, dass es bald schneien wird.

In der Ferne pfeift eine Lokomotive, und langsam nähern sich zwei trübe Lichter. Das Signal steht auf Halt. Die Lokomotive pfeift noch einmal, schrill und wütend. Meine Rechnung scheint zu stimmen. Ente schnauft vor Aufregung. Der Zug klirrt und rumpelt über die Schienen. Mein Herz schlägt schnell. Es ist ein Kohlenzug, und er muss halten.“

Erstmals 1966 erschien im Kinderbuchverlag Berlin das für Leser von 10 Jahren an gedachte Buch „ Der Fremde aus der Albertstraße. Eine abenteuerliche Geschichte für Mädchen und Jungen“ von Günter Görlich: Rainer und seine Freunde aus der 5a bereiten sich auf die Schneeballschlacht gegen die 5b am nächsten Tage vor. Sie schießen sich auf einen jungen, unsicher gehenden Mann ein, der von der Wucht der Schneebälle stürzt. Rainers Freunde halten ihn für betrunken und laufen weg. Aber Rainer sieht durch sein Theaterglas, dass der Mann ein künstliches Bein hat. Er will sich entschuldigen und landet in einem alten Haus in der Albertstraße. Da kommt ihm die Idee, dass die Pioniere den alten Leuten Kohlen und Kartoffeln aus dem Keller in die Wohnung tragen könnten und bei dem Glatteis für sie einkaufen gehen könnten. Rainer hat noch andere Ideen und es dauert lange, bis er sich bei dem Studenten Peter mit der Beinprothese endlich entschuldigt. Das Buch beginnt sehr winterlich, an einem Februartag:

Die vergessene Baubude

Die Eisblumen an den Fensterscheiben beginnen abzutauen. Sie schmelzen sehr langsam. Noch steckt die Kälte in Glas und Stein. Seit dreißig Jahren ist das der kälteste Winter, schreiben die Zeitungen – und die müssen es wissen. Die Briefträger haben weniger zu schleppen, denn die Zeitungen sind dünner geworden, weil die Papierfabriken weniger Kohle einbunkern können und deshalb ihre Maschinen gedrosselt haben.

Heute knirscht der Schnee nicht mehr unter den Schuhsohlen. Er pappt und lässt sich gut kneten. Rainer streift sich die dicken Fäustlinge ab und schlägt die Ohrenklappen seiner Pelzmütze hoch und spottet über die Freunde.

„He, ihr Zimperliesen! – Handschuhe von den Pfoten. Männer wollt ihr sein?“

Elf Jahre alt ist Rainer. Weil er groß ist und dünn, glaubt man, der Wind könne ihn umpusten. Das ist eine Täuschung. Am besten wissen das die drei anderen: der ernste Ede, der Mäcki mit dem Vollmondgesicht und der kleine, magere Schimmel. So ziehen sie auch ihre Handschuhe aus.

Rainer stampft mit seinen festen Skistiefeln den Schnee. Mutter hat sie ihm zu Weihnachten geschenkt.

Damals sagte sie so nebenbei: „Wenn du die Stiefel nicht jeden Tag putzt, hat’s keinen Zweck, dass du sie behältst.“

Mutter kennt seine große Schwäche.

Der Februartag ist wolkenverhangen. Auf einer weiten, verschneiten Fläche steht einsam eine halbverfallene Baubude. Aus irgendeinem Grunde ist sie nicht abgerissen worden, als der letzte Hochblock fertiggebaut war, und nun steht sie genau in der Mitte zwischen den zehnstöckigen Häusern und den alten, grauen Mietskasernen. Die Baubude erinnert daran, dass hier einmal Tag und Nacht Bagger schaufelten, Kräne schwenkten, schwere Lastkraftwagen rollten – dass es hier immer nach Kalk und Mörtel, nach Beton roch. Jetzt ist die Baubude ein Ziel für die Schneebälle, und das ist zu sehen, so viele kleine weiße Buckel kleben daran.

Rainer schreit mit heiserer Stimme: „Salve! Feuer!“ Vier Schneebälle zerplatzen mit dumpfem Aufschlag an den morschen Brettern. Rainer kneift die Augen zusammen. Über seiner Nase steilt eine Falte.

„Ist langweilig“, sagt Mäcki, „im Fernsehen läuft jetzt ein dufter Film.“ Rainer blickt wütend von oben herab auf Mäcki, denn der ist einen Kopf kleiner, dafür aber so dick wie eine kleine Tonne. Er isst unwahrscheinlich viel Kuchen. Mäcki blinzelt jetzt mit seinen blauen Augen. Vielleicht zwackt die Schneeluft? Oder ist Rainers Blick so böse?

„Üben müssen wir, Dicker … Immer üben. Zufällig hast du die Bude getroffen. Wie sollen wir morgen dastehen? – He, du Nase?“ – Rainer wirft hintereinander drei Bälle. Eng sitzen sie alle nebeneinander.

„Pause“, sagt Ede missmutig und scharrt Schnee zusammen, „ob wir überhaupt morgen was zu melden haben?“ Auf Rainers Stirn vertieft sich die Falte.

„Und dir Schimmel“, fährt er den vierten in ihrem Bunde an, „dir läuft die Nase!“  

Schimmel heißt eigentlich Schimmelpfennig. Klein ist er und blass im Gesicht, darin zwei schmale, gelbe Augen. Schimmel ist ein großer Schweiger – aber auch ein guter Zuhörer.

Umständlich angelt er ein Tuch aus der Hosentasche. Die Nase läuft wirklich. Er muss sie ausschnauben. Dagegen gibt es nichts zu sagen. Ede stößt ihn in die Rippen, dass er fast in den Schnee fällt.

„Mit dem Pioniertuch wischt sich der die Nase.“

Schimmel starrt auf das blaue, zerknitterte Tuch, dann hilflos auf die anderen. Mäcki lacht. Schimmel untersucht seine Taschen. Ein Taschentuch findet er nicht. Rainer holt ein sauberes Tuch hervor.

„Hier, nimm meins“, sagt er, „das Halstuch her. Morgen muss es geplättet sein. Ich geb’s meiner Mutter.“Schimmel schnäuzt sich gewaltig und lange. Schön lässt es sich in ein sauberes Tuch schnäuzen. Schimmel hat manchmal kein Taschentuch, und oft fehlt ein Knopf, oder ein Loch in der Hose ist nicht gleich geflickt. Seine Mutter ist krank.

Das längste Schnäuzen geht mal zu Ende – und nun stehen sie da und haben keine Lust mehr, die vier getreuen Musketiere der 5a. Morgen soll die auf Tafeln und selbst geschriebenen Plakaten angekündigte große Schneeballschlacht gegen die 5b auf dem Schulhof toben.

Die Augen Rainers, des Hauptmanns der getreuen Musketiere, verengen sich, als er daran denkt.

Der Pionierhäuptling ihrer Klasse ist ein Mädchen. Es hört auf den verrückten Namen Marion. Überhaupt sind mehr Mädchen in der 5a als Jungen. Das ist ein Unglück. Marion will immer nur Lieder singen, basteln oder Ansprachen halten. Friedlich muss es zugehen. Blaue Augen darf es nicht geben. Aber die freche Herausforderung der 5b hat sie sofort angenommen. Vom Lehrertisch hat sie die Sache verkündet, wie ein Marschall, nur eben mit piepsiger Stimme. Eine Schneeballschlacht steht bestimmt im Pionierwinterplan, und der muss erfüllt werden.

Aber wer muss an den Kampf denken und wie er ausgehen wird? Rainer und die anderen getreuen Musketiere. Und so getreu sind die auch nicht mehr. Ungemütlich feuchtkalt ist das Wetter – die Bretterbude kein lohnendes Ziel.“

Erstmals 1967 veröffentlichte Günter Görlich im Verlag Neues Leben Berlin die Erzählung „Autopanne“: Georg Bannert, weitgereister Reporter und Junggeselle, ist auf dem Weg nach Mökelen. In dieser Kleinstadt gibt es eine interessante Bürgermeisterin, über die er ein Porträt schreiben soll. Unterwegs hat er – nicht zuletzt wegen seiner sportlichen Fahrweise – eine Autopanne, die ihm fast das Leben gekostet hätte, was den an Erfolg gewöhnten jungen Mann nachdenklich stimmt. Weit mehr Anlass zum Überlegen aber gibt ihm aber seine journalistische Panne: Er kann das Porträt nicht schreiben, denn die Bürgermeisterin ist Vera, die er einst geliebt hat, die er heiraten wollte. Plötzlich steht es wieder vor ihm, das bittere Erlebnis der Trennung. Warum ist es so gekommen? Gab es Versagen, vielleicht sogar Schuld? Noch einmal erlebt Georg Bannert in Gedanken die Tage mit Vera. Und seine Erinnerung wird zugleich Beichte. Aus seinem Blickwinkel nehmen wir Anteil an der Entwicklung einer Frau, die lebenstüchtig genug war, ihr Schicksal zu meistern. Zunächst aber muss der Reporter zu seinem Chefredakteur, der seiner schon in Ungeduld harret, wie Lily verkündet. Wer ist Lily? Einen kleinen Moment bitte:

1

Nethe war schuld, dass ich nach Mökelen fuhr, in jenes Städtchen, abseits der Straße gelegen, auf der die Hauptstädter ihren Sommerfreuden an Düne und Meer entgegenfahren. Ein ausgedehnter Wald gehört zu Mökelen, Tannen, Buchen und andere Bäume; in der Botanik bin ich schlecht bewandert, obwohl ich als Junge davon geträumt habe, Förster zu werden, gekleidet in einen grünen Rock, einen Hund an der Seite, der auf den Namen „Poldi“ hören sollte. Weite, saftige Wiesen gehören auch zu Mökelen – und die Möke, ein Flüsschen, das still zum Haff hinunterfließt, auf diese Weise ist das Städtchen, wenn man so will, mit der großen Welt verbunden. Dorthin also schickte mich Nethe, mein Chefredakteur; ich bin Reporter.

Nach reiflichem Überlegen muss ich meine Geschichte, die sich hauptsächlich, aber nicht nur, in dieser kleinen Stadt zutrug, mit meinem Chefredakteur beginnen – obwohl ich überzeugt bin, der Leser möchte in eine Geschichte hineinspringen, schon auf den ersten Seiten will er Unerhörtes erleben: große Liebe, tiefe Trauer, lautes Lachen, schlimmes Weinen, Mord und Eifersucht, vielleicht finstere oder sehr schöne Gedanken. Und wenn ich verspreche, dass von all dem etwas sein wird in der Geschichte?

Der Name meines Chefredakteurs steht jede Woche klein, aber fett gedruckt an der Spitze eines Impressums, ein paar hunderttausendmal. Und die Zeitschrift liegt in ebenso vielen Exemplaren in den Kiosken des ganzen Landes aus, natürlich auch in den beiden in Mökelen.

Eines Morgens betrat ich wie immer pünktlich um neun Uhr Lillys Zimmer. Sie empfing mich mit den Worten: „Du sollst mal gleich zu Nethe kommen, Georg.“

Ich hielt noch die Klinke in der Hand und fragte, nicht gerade erbaut: „Was will er denn schon wieder?“

„Er wird schon was wollen.“

Lilly ist die Kollegin, die meine Reportagen, Porträts und gelegentlichen journalistischen Mischformen säuberlich und korrekt abschreibt – und eigenschöpferisch auch, was die Grammatik und manchmal den Stil betrifft. Sie hat eine feine, aber zugleich unbekümmerte Art mir mitzuteilen, was ich in meinen Manuskripten in dieser Hinsicht übersehe. „Georg“, pflegt sie zu sagen, „du hast wieder einmal wichtige Satzzeichen vergessen. Und ,im wesentlichen‘ schreibt man klein.“

Ich erwidere dann meistens: „Schönen Dank, Lilly. Man hat eben so verflucht wenig Zeit. Es ist zum Kinderkriegen.“

Diese Bemerkung ist bei Lilly freilich fehl am Platz; sie hat dreimal Gelegenheit gehabt, Kinder zu bekommen. Ihre Antwort fällt entsprechend kühl aus; sie zieht die Augenbrauen hoch und sagt: „Ja, ja, Georg, die Zeit, ich weiß …“

Ich glaube, ohne die Lillys kann überhaupt keine Redaktion arbeiten, ähnliche Einrichtungen übrigens auch nicht. Die gewissenhaften, arbeitsamen Lillys, nüchtern und romantisch zugleich, freuen sich, wenn man ihnen hin und wieder Blumen mitbringt. Ein Strauß Nelken erfreut sie manchmal mehr als eine Prämie. Leider berücksichtigen das die wenigsten, denen die Lillys Kalender, Gewissen und Beichtstuhl sind. Hin und wieder vergesse ich es nicht.

An diesem Morgen meinte Lilly noch: „Georg, du siehst ein wenig müde aus.“

Ja, das traf, wie man so sagt, den Nagel auf den Kopf. Ich war spät in der Nacht nach Hause gekommen. Nicht aus einer Bar, wie man oft annimmt, wenn einer, der Junggeselle ist, am Morgen etwas angegriffen aussieht, sondern von einer Ökonomiekonferenz in Leipzig. Klein-Paris, das ich sonst recht nett finde, war mir trostlos und öde erschienen, und zu allem Überfluss hatte es geregnet, diesen verdammten Leipziger Regen, der den Schmutz aus Böhlen auf die Stadt klatscht. Aber meine Stimmung und der Regen waren für die Redaktion völlig uninteressant: Ich hatte über Handelsmethoden zu berichten. Weil ich manchmal den Grundsatz befolge, Unangenehmes am besten sofort zu erledigen, setzte ich mich noch nachts hinter meine Schreibmaschine und tippte die verlangten 90 Zeilen herunter. Ich fand, das sei unwahrscheinlich viel für einen Artikel über Handelsmethoden.

Und nun sollte ich zum Chef kommen, und Lillys Tonfall verriet mir, dass es keine Arbeit über Handelsmethoden sein würde, die mich erwartete. Mir wäre trotzdem lieber gewesen, am Nachmittag mit Nethe zu plaudern; seine Plaudereien sind anstrengend. Doch was half’s. Ich legte also mein in der Nacht geschaffenes Werk vor Lilly auf den Schreibtisch.

„Hab’s gleich getippt, weißt du, Lilly.“

Sie schaute auf. Und sie kann aufschauen. Man rutscht runter zu ihr und ist auf einmal ganz unten. Ich dachte an Komma und Stil.

„Na, geh schon“, sagte sie überraschend sanft, „Nethe harret deiner in Ungeduld.“

Nethe stand am Fenster und wandte mir den leicht gekrümmten Rücken zu. Auf dem Schreibtisch herrschte wie immer ein ungeheuerliches Durcheinander: Nethes Arbeitsplatz ist ein winziges Tischlein, eine Art Rauchtisch, um den herum drei Sesselchen stehen. Auf dem Tisch die Teekanne, groß und bauchig und mit dem Sprung in der Tülle, der das Eingießen zu einem wahren Kunststück macht. Neben der Teekanne lag die Karo-Packung; wer Nethe kennt, schenkt ihm Karo.“

Erstmals 1968 veröffentlichte Günter Görlich im Kinderbuchverlag Berlin „ Der verschwundene Schiffskompass“. Dieses kurzweilige Buch für Leser von 11 Jahren an wurde beim Preisausschreiben für Kinder- und Jugendliteratur des Ministeriums für Kultur der DDR 1968 mit einem Preis ausgezeichnet: André verbringt seine Ferien in einer Kleingartenanlage in der Nähe von Berlin, wo er Marina wiedertrifft. Marina ist in den Ferien bei der Oma. Ihr Opa war bei dem Kieler Matrosenaufstand dabei und wurde Weihnachten 1918 in Berlin von Konterrevolutionären erschossen. Nun soll ein Schiff der Volksmarine seinen Namen bekommen. Aber der Schiffskompass, den Opa von dem aufständischen Kieler Schiff mitgebracht hat, wurde gestohlen. André und Marina spielen Detektiv und verdächtigen natürlich die Falschen. Bis plötzlich der Kompass heimlich zurückgegeben wurde. Es ist der 4. Juli 1968, als André, einer der beiden jugendlichen Helden dieses Buches, eine Entdeckung macht. Außerdem geht es in dieser Passage um ein nicht gehaltenes Versprechen – von beiden Seiten:

Die Wette

Als nun André bei Onkel Paul und Tante Lisa zu Abend aß, neigte sich der 4. Juli seinem Ende entgegen. Elf Tage nur noch. Ein Tatarenkäppchen war zu gewinnen, ein Finnmesser zu verlieren. „Ich geh noch ein bisschen raus“, sagte André.

Weil er seinen Gurt über der Lederhose ein Loch weiter machte, war Tante Lisa zufrieden und sagte: „In dem Alter hat man eben keine Ruhe auf dem Hintern. Unsereiner würde sich nach so einer Reise langstrecken.“

„Unsereiner“, sagte Onkel Paul und seufzte.

„Hier hast du deine Schlüssel. Aber komm nicht zu spät“, sagte Tante Lisa.

Es war nicht weit bis zum Tor der Laubenkolonie „Heimaterde“. Für den flinken André nur ein Katzensprung. Auf der Straße noch probierte er ihren Erkennungspfiff. Einmal lang und gellend, zweimal kurz. André hatte im vergangenen Jahr nicht wenig üben müssen, bis er diesen Pfiff beherrschte.

Passanten auf der Straße sahen sich verwundert um.

Rennt so ein langer Kerl und pfeift, dass einem die Ohren schmerzen.

Als André an das grüne, frisch gestrichene Holztor kam, lief er langsam. Mit einem Blick nahm er die Bank wahr, gleich neben dem Tor und der Anzeigetafel der Laubenkolonie. Hier konnte man gut sitzen, die Straße beobachten, die Autos und Straßenbahnen. Das war auch im vergangenen Jahr ihre Bank.

Für Liebespärchen, hatte Marina kichernd gesagt, sei die Bank sowieso nicht geeignet, weil genau darüber eine Lampe baumelt und überhaupt zu viele Leute hier vorbeikämen. Es war der Weg aller Siedler zur Straßenbahn.

André betrat zögernd den breiten, sauberen Schlackenweg. Da entdeckte er die beiden Wolgawagen. Sie standen dicht am Zaun hintereinander. Der vorderste bleckte sein breites Kühlermaul André entgegen.

Die Autos parkten am Zaun der Buchholzparzelle. André ging zögernd näher heran.

Er erkannte die feste Wohnlaube der Großmutter Buchholz, hinter der gutgeschnittenen Hecke. Auf dem Dach thronte ein schwarzer Wetterhahn, wenn ein launischer Wind blies, drehte er sich knarrend.

Am Gartentisch vor der kleinen Veranda saßen zwei Matrosen. Ihre weißen Mützen hatten sie auf den Tisch gelegt, und sie tranken aus hohen Gläsern. Sicherlich Apfelmost. Großmutter Buchholz konnte ihn genauso gut keltern wie Tante Lisa.

Die Matrosen unterhielten sich und rauchten.

André starrte über den Zaun. Wie kamen Matrosen in Großmutter Buchholz’ Garten?

Der Junge hatte sich so aufgestellt, dass er nicht gesehen werden konnte. Nach einer Weile trat Marina aus der Veranda. André stellte sich auf die Zehenspitzen. Marina sah so aus wie im vergangenen Sommer: das Gesicht braun gebrannt, schwarz die Haare, weiß die Bluse, und an den Beinen trug sie die verwaschene Niethose. Aber im vergangenen Jahr reichte die Hose noch bis zu den Knöcheln. Jetzt ging sie gerade bis zu den Waden. Marina brachte den Matrosen eine Karaffe Apfelmost. Sie goss die Gläser voll, und die Matrosen lachten.

André hinter der Hecke konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen. Er hörte Marina lachen, und so hatte er sie noch nie lachen gehört.

Weil die Sonne schon tief stand und wie ein feuriger Ball aussah, wirkte das Bild vor der Veranda sehr farbig.

André pfiff nicht. Es waren doch Gäste bei Buchholz’. Aber er hätte brennend gern das Rätsel der beiden Autos und der Matrosen im Garten gelöst.

André schlich noch ein paarmal an die Hecke, lief um das Laubengelände und hoffte stets, wenn er am Tor auftauchte, die Wolgaautos vor dem Zaun wären verschwunden.

Das letzte Mal wählte er einen langen Weg, und weil es schon dunkel war, sah er im ersten Augenblick nicht die schwarzen Autos auf dem Schlackenweg. André dachte, sie wären nun endlich abgefahren, und wollte schon die Finger zum Pfiff zwischen die Lippen schieben, dann sah er, dass er sich getäuscht hatte. Die Autos standen noch da, die weißen Blusen der Matrosen leuchteten, ihre Stimmen waren zu hören, und aus den geöffneten Fenstern der Wohnlaube drang fröhliches Lachen.

Da lief der Junge langsam zum Häuschen von Onkel und Tante zurück. Im kleinen Zimmer unterm Dach lag er auf dem Bett, das dem jüngsten Sohn des Hauses gehörte, der aber schon über ein Jahr bei der Armee diente.

André fand lange keinen Schlaf. Die Autos und die Matrosen gingen ihm nicht aus dem Kopf.

Er war traurig, dass er nicht gepfiffen hatte. Einmal lang und gellend – dann zweimal kurz.

André erinnerte sich an den Sommer im vergangenen Jahr, als er Marina zum ersten Mal gesehen. Sie war durch die Straße geradelt, in der Tante Lisas und Onkel Pauls Haus stand, bei denen André seine Ferien verbrachte. Er saß auf einer Sandkiste für die Winterstreuung, und genau davor sprang die Kette von Marinas Fahrrad. Das Mädchen mühte sich vergeblich, den Schaden zu beheben. André hatte geholfen. So waren sie Freunde geworden, und als André bald darauf nach Hause fuhr, versprachen sie sich zu schreiben.

Das Versprechen vergaßen sie aber, vielleicht hatte jeder gewartet, dass der andere damit anfing.“

Ja, so ist das manchmal im Leben. Da nehmen sich zwei was vor, und jeder denkt von dem jeweils anderen, der würde damit anfangen. Da geht es in der Literatur zu wie im richtigen Leben – oder auch umgekehrt. Immerhin aber haben sich André und Maria nun wiedergefunden und wollen gemeinsam eine wichtige Frage beantworten: Wo befindet sich der verschwundene Schiffskompass, und wer hat ihn denn nun gestohlen? Haben Sie vielleicht eine erste Idee?

Viel Vergnügen beim Lesen und weiter einen schönen Sommer und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Apropos demnächst: Der gesamte Monat Juli 2022 wird ein richtiges Günter-Görlich-Festival. Alle bis Monatsende preisgesenkten Sonderangebote haben ein- und denselben Verfasser – Günter Görlich. Darunter befinden sich in der nächsten Woche auch eines seiner vielleicht bekanntesten Bücher: „Den Wolken ein Stück näher“.

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