Der Europäische Gerichtshof entschied am 15. Juni 2018, dass der Begriff „Ehegatte“ im Rahmen des Gemeinschaftsrechts geschlechtsneutral sei und mithin die Homo-Ehe vollumfänglich mit der Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt werden müsse (Rechtssache C-673/16). Es war wieder eines jener Phantasie-Urteile der Götter in Robe, die auf dem Luxemburger Kirchberg-Plateau thronen. Denn damit widersprach der EuGH nicht nur sich selbst, sondern maßt sich auch Kompetenzen an, für die er kein Mandat hat. In der Tat, der Gerichtshof der Europäischen Union entwickelte sich seit 1963 zum unberechenbaren Zauberlehrling. Die Unionsrichter machen ungeniert Politik ohne demokratisches Mandat aber mit der Attitude des unantastbaren Juristen. Doch niemand wagt es, die Richter in ihre Schranken zu weisen, geschweige denn handfeste Konsequenzen aus ihrer Selbstherrlichkeit zu ziehen. Das neue Urteil, das man mit Fug und Recht ein Skandalurteil nennen kann, lädt ein, den EuGH unter die Lupe zu nehmen.

Der dem Skandalurteil über die Definition von Ehe und Familie zugrunde liegende Fall wurde von dem Rumänen Relu Adrian Coman und dem Amerikaner Robert Hamilton losgetreten. Die Herren Coman und Hamilton „heirateten“ 2010 in Brüssel nach belgischem Recht. Belgien war das zweite Land der Welt, das die Home-Ehe erlaubte, seit 2006 übrigens mit vollem Adoptionsrecht. Dass ihre „Ehe“ in Brüssel geschlossen wurde, hatte auch seinen Grund: Coman arbeitete hier als akkreditierter Parlamentsassistent (APA) der rumänischen Europaabgeordneten Monica Macovei im EU-Parlament. Herr Coman war Stammgast im Europabüro der Internationalen Schwulen- und Lesbenorganisation (ILGA Europe) sowie der Vereinigung der LGBT-Europabeamten („Egalité“). Dass dieses schwul-lesbische Beamten-Netzwerk in den EU-Institutionen seinen Anteil zu diesem Skandalurteil beigetragen hat, steht außer Frage. Schließlich gibt es die LGBT-Beamtenvereinigung „Egalité“ auch in Luxembourg am Sitz des Gerichtshofs. „Egalité“ rühmt sich auf seiner Webseite, durch seine Mitglieder (Beamte der EU) politische Entscheidungen der EU-Institutionen zugunsten der LGBT-Gemeinschaft zu beeinflussen oder gar mitzubestimmen. Das Skandalurteil, wonach der Begriff „Ehe“ geschlechtsneutral ausgelegt werden muss, dürfte so ein Urteil auf der Grundlage von LGBT-Lobbyismus und Rechtsaktivismus sein.

Der Gerichtshof hat die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. So steht es in Artikel 19 Abs. 1 Satz 2 des EU-Vertrags. Der Gerichtshof der EU entscheidet also bei Vertragsverletzungsverfahren, die die EU-Kommission gegen Mitgliedsstaaten anstrengt, wenn die Kommission die Anwendung des Unionsrechts beanstandet. Aus politischer Sicht wesentlich wichtiger sind jedoch die sogenannten Vorabentscheidungsverfahren. Hier setzte sich – weitgehend unbemerkt – eine Praxis durch, die eine Selbstunterwerfung der Mitgliedsstaaten gegenüber der EU zur Gewohnheit macht. Die höchsten Gerichte der Mitgliedsstaaten, die letztinstanzlich über einen Fall mit Europabezug urteilen, müssen im Zweifelsfall verpflichtend den EuGH zur Vorabentscheidung anrufen. Die EU-Richter verschiedener Nationalitäten geben dann zum Beispiel dem deutschen Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor, wie deutsche Richter deutsches Recht anzuwenden haben. Hier ist eine Grauzone, die der EuGH geschickt gefüllt hat und das zeigt einmal mehr, wie unkontrolliert und politisch mächtig dieses weitgehend unbekannte Organ der Europäischen Union ist: deutsche Bundesrichter müssen im Zweifel den Fall in Luxemburg vorlegen und dürfen nur im Sinne des EuGH deutsches Recht sprechen. Allen anderen Mitgliedsstaaten geht es genauso. Dieser Rechtsaktivismus begrenzt die Demokratien Europas, es handelt sich um eine Anmaßung von politischer Verantwortung.

Die Verselbständigung der Urteilsfindungen auf dem Kirchberg-Plateau in Luxemburg begann bereits wenige Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Bei Skandalurteilen wie dem neuesten zur Definition von Ehe und Familie (und es ist bei weitem nicht das einzige) zahlen die Europa-Realisten nunmehr den überteuerten Preis einer undifferenzierten «Eurofolie» jener Nachkriegsgeneration, die – historisch verständlich – als Europapolitiker mit Begeisterung die «europäische Integration» – also die stufenweise Abgabe nationaler Entscheidungshoheit in allen Politikfeldern an die supranationalen EU-Behörden – vorantrieben und die EU-Verträge wie ein heiliges Buch behandelten, das man unter keinen Umständen anzweifeln durfte. Sie ließen den Gerichtshof einfach gewähren und fanden das allgemein auch ganz gut.

Das Unheil nahm seinen Lauf 1963 und 1964 mit den Entscheidungen Van-Gend-&-Loos (5. Februar 1963) und Costa/Enel (15. Juli 1964). Der EuGH setzte in diesen Urteilen aus eigenem Gutdünken den absoluten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten fest. Doch dieser absolute Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen war nirgendwo in den Römischen Verträgen vorgesehen. Hätten das die Gründerväter der heutigen EU ausdrücklich so gewollt, hätten sie es auch so in den Marmor der Gründungsurkunde gemeißelt. Haben sie aber nicht. Also sprachen sich die Luxemburger Richter aus der politischen Situation des Integrationsprozesses heraus selbstherrlich eine Vorrangrolle zu. 1963 urteilten sie: „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben.“ Niemand protestierte über diese Feststellung einer von niemandem beschlossenen „neuen Rechtsordnung“. Der Europäische Gerichtshof ging in der Costa/Enel-Entscheidung 1964 noch einen Schritt weiter: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist. Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, dass es den Staaten unmöglich ist, gegen die von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen.“ Absoluter Vorrang des Gemeinschaftsrechts und Verbot an die Mitgliedstaaten, eigene Maßnahmen zu erlassen: Heute erweist sich aus politischer Sicht, dass es unklug war, gegen diese Selbstherrlichkeit nicht von Anfang an aufzustehen.

Im jüngsten Fall zur Definition von Ehe und Familie hat der EuGH übrigens seiner eigenen Rechtsprechung widersprochen. Vor 17 Jahren urteilte er noch, dass „der Begriff „Ehe“ nach in allen Mitgliedstaaten geltender Definition eine Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts bezeichnet.“ (EuGH, 31.05.2001 – C-122/99 PC-125/99 P). Diese Rechtsprechung ist durch das neue Urteil noch lange nicht überholt. Bislang haben nämlich nur dreizehn von achtundzwanzig Mitgliedsstaaten, zuletzt auch Deutschland, inzwischen die gleichgeschlechtliche Ehe der Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts gleichgestellt. Also nicht einmal die Hälfte aller Mitgliedstaaten.

Der Europäische Gerichtshof ist notwendig, seine Praxis problematisch, die Folgen seiner Selbstermächtigung noch nicht absehbar. Es ist der Versuch, die Vereinigten Staaten auf undemokratische Weise, sozusagen durch die juristische Hintertür zu schaffen. Der EuGH wird uns deshalb auch im nächsten Brief aus Brüssel beschäftigen. Bis dahin wünsche ich Ihnen einen angenehmen Sommer,

Ihr
Junius

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die  Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.

 

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