Wie durstig sind eigentlich Zwerge? Ganz genau können wir das auch nicht sagen. Aber immerhin wissen wir, dass sie offenbar gern Bier getrunken haben, als sie noch in Pinnow lebten. Und dass sie sich dafür mit großzügigen Gegenleistungen revanchiert haben. Und dieser ungewöhnliche diplomatische Tauschhandel ging sogar sehr lange gut, jedenfalls solange bis … Genaueres zu diesem Deal und zu seinem traurigen Ende findet sich im zweiten der insgesamt fünf Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag,09.10.20 – Freitag, 16.10. 20) zu haben sind. In „Die Burg im See“ erzählt Hans Stamer Märchen aus Pinnow und aus Godern.

Einen vermissten Ehemann zu finden ist der Auftrag des Neu-Privatdetektivs Gunther Krey in dem Krimimalroman „Eine dicke Dame“ von Klaus Möckel, der in einer ziemlich wilden Zeit spielt, im Frühjahr 1990 in Berlin.

Aber der außerordentlich vielseitige und produktive Klaus Möckel hat auch eine Reihe von Kinderbüchern geschrieben, darunter unter dem Titel „Ein Hund mit Namen Dracula“ eines mit Grusel-Grauselgeschichten. Gut für Halloween vielleicht …

Zu einer sachkundig begleiteten Wanderung laden Heinz Falkenberg und Gottfried Holzmüller ein – und zwar mit ihrer aktuellen Veröffentlichung „Um den Schweriner Außensee – Geschichten, Sagen und Wanderungen“.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Schaut man sich das heute vorgestellte Buch etwas genauer an, dann kommen einem aktuelle Bilder aus der jüngsten Zeit in den Sinn. Auch heute wird wieder mit militärischen Drohungen, mit Kriegsschiffen und mit Fallschirmjägern Politik gemacht. Und es fragt sich, was das mit Gerechtigkeit und Völkerverständigung zu tun haben soll. Es fragt sich aber vor allem, wie sich verhindern lässt, dass aus solchen anfänglich regionalen Krisen und Kriegen ein erneuter Weltbrand entsteht. Noch ist eine Antwort offenbar nicht gefunden. Der Mechanismus hinter solchen Entwicklungen aber ist bekannt. Und zwar schon seit langem.

Erstmals 1957 erschien im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung Berlin „Der Spion von Akrotiri“ von Wolfgang Schreyer: August 1956: Der Reserveleutnant Roger Anderson aus Liverpool, im zivilen Leben Mitarbeiter der Zollfahndung, wird zur 16. Fallschirmjägerbrigade nach Zypern eingezogen. Dort bekommt er von der britischen Abwehr den Auftrag, den amerikanischen Archäologen Walpole, der seine Ausgrabungen nur in der Nähe von geheimen militärischen Objekten durchführt, zu überwachen. Die britische Abwehr fängt Funksprüche mit Details der französischen und britischen Truppentransporte nach Zypern auf, aber Anderson verliebt sich in eine junge und auffällig hübsche Journalistin, die sich nur allzu oft in der Nähe von Walpole aufhält. Im Morgengrauen des 5. November stiegen von Zyperns Flugplätzen in rascher Folge schwere Transportflugzeuge auf, mit Fallschirmjägern, automatischen Waffen und Munition randvoll beladen. Anderson und seine Kameraden sollten den Flugplatz Gamil nordwestlich von Port Said erobern. Nach dem hundertstündigen, pausenlosen Luftbombardement auf Ägypten ein Kinderspiel? Leutnant Anderson hat aber offenbar nicht ganz geheime militärische Aufträge zu erledigen, sondern ist offenbar auch in anderer, gewissermaßen männlicher Mission, wenn man das heute noch so sagen darf, unterwegs. Auch das beweist das hier abgedruckte 7. Kapitel des spannenden, beklemmend aktuell wirkenden Schreyer-Buches vom Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts:

„Am Abend des folgenden Tages, es ging schon auf Mitternacht, traf ich Walpole in der Hotelbar an. Ein Trio spielte Dixieland-Jazz. Er saß mit angezogenen Beinen gleich einem zornigen Gorilla auf dem Barhocker; er schien schon einige Cocktails getrunken zu haben. Von der gläsernen Platte, auf der sein Glas stand, ging giftgrünes Licht aus; es zauberte leichenhafte Blässe auf sein hässliches, großflächiges Antlitz.

„Hallo, Mister Walpole, how are you?“, rief ich, schwang mich neben ihn und bestellte zwei Prärieaustern beim Mixer. Wir nickten uns zu und kamen rasch ins Gespräch. Es tat ihm anscheinend wohl, zu trinken, dabei ein paar Worte mit jemandem zu reden, er hatte Kummer, das wusste ich ja.

„Es würde mich übrigens freuen, wenn Sie sich noch einmal entschließen könnten, mich nach Akrotiri zu begleiten“, sagte er. „Meine Leute sind dabei, die Grube zu erweitern… Nehmen Sie noch einen Martini? Zwei Martini, my boy… Am kommenden Freitag fahre ich wieder hinaus.“

„Falls es sich irgend mit meinem Dienst vereinbaren lässt, nehme ich herzlich gern an!“

„Diesmal hoffe ich Ihnen mehr bieten zu können als einen wüsten Haufen Schutt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn auch Miss Rougon wieder mitkäme?“

„O nein, im Gegenteil“, versicherte ich – vielleicht eine Spur zu lebhaft, denn er sah mich unter geschwungenen Lidern durchdringend an. Es war ein schwerer, prüfender Blick, der eine Drohung widerspiegelte. Seine trübgrauen, von Cocktails verschleierten Augen warnten: Hüten Sie sich, mein Junge, das ist nichts für Sie.

„Miss Rougon“, sagte er nach einer Weile, „ist eine überdurchschnittliche Frau. Ich kenne einige ihrer Artikel und halte sie für eine sehr talentierte Journalistin.“

„Das ist auch meine Meinung“, erwiderte ich. „Sie wird ihren Weg bestimmt machen und nicht mehr lange für ein Lokalblatt wie den ‚St. Antonio Herald‘ schreiben.“

„Na, sie hätte es nicht nötig“, brummte er. „Das tut sie aus Sportgeist, Langeweile oder Geltungsdrang, wie Sie wollen. Heutzutage stecken die Mädchen voller Unruhe und Ehrgeiz, möchten auf eigenen Füßen stehen…“

Ich bestätigte ihm das. Der Alkohol machte Walpole mitteilsam; mir blieb eigentlich nichts zu tun, als seinen Redefluss durch kleine Bemerkungen zu fördern. Doch war er keineswegs so betrunken, dass er nicht mehr kontrollieren konnte, was er sagte.

„Sie ist von Hause aus nicht ganz mittellos, Mister Anderson. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass man ihren Namen besser französisch aussprechen sollte? Rougon… Das ist eine alte französische Pflanzerfamilie, die seit den Zeiten Ludwigs XIV. am unteren Mississippi sitzt und dann weiter westwärts in Texas Ländereien erworben hat.“

„Und ich glaubte, St. Antonio läge irgendwo an der Westküste.“

„Unsinn“, knurrte Walpole. „Mitten in Texas, und zwar in einem Landstrich, wo der Boden mehr wert ist als das Gras für die Rinderherden, das auf ihm wächst.“

„Noch zwei Whisky“, rief ich. „… Wie meinen Sie das?“

„Sie hat mir nichts gesagt, Leutnant“, antwortete Walpole, wobei er mich höhnisch anstarrte. „Aber ich vermute, es ist eine kleine Ölquelle mit im Spiel. Nun, verstehen Sie?“

Ich verstand ihn genau. Er deutete mir damit an, ich sollte jede Hoffnung fahren lassen. Sie war ein Mädchen, das reiche Eltern hatte, sie gehörte zur selben Gesellschaftsschicht wie er, ein wohlhabender Privatmann, der zu seinem Vergnügen auf Zypern nach Altertümern grub. Der kleine Leutnant wurde in seine Schranken verwiesen.

„Trinken wir mal darauf?“, fragte ich in einem Anflug grimmigen Humors. „Auf Miss Rougons kleine Ölquelle?“ Unsere Gläser klirrten aneinander, es war, als ob wir heimlich die Klingen kreuzten.

„Sie ist eine bemerkenswerte Frau“, murmelte er, und sein Blick verdüsterte sich. „Mixer, diesmal ohne Soda!… Und auch Sie, Leutnant, sind, obwohl Engländer, gar kein übler Kerl…“

„Schönen Dank, Mister Walpole. Ich gehe jetzt schlafen.“

„Vergessen Sie’s nicht – am Freitag“, rief er mir nach.

Er hockte wie ein Gorilla auf dem hochbeinigen Schemel, und von der Bar her fiel ein giftiger Hauch auf sein Gesicht.

Noch in derselben Nacht schrieb ich den fälligen Wochenbericht für die Abwehr; ich war gezwungen, darin meinen Misserfolg zu schildern. Allerdings wiegt Mangel an Ermittlungsergebnissen beim Geheimdienst weniger schwer als bei den zivilen Kriminalbehörden, die von Presse und Öffentlichkeit bedrängt werden, sobald sie mit der Aufklärung einer Straftat ernstlich in Verzug geraten. Die militärische Abwehr hat es bedeutend leichter, Fehlschläge und Irrtümer zu vertuschen. Auch fließen ihre Finanzquellen reichlicher, so dass ich mir wegen meiner Spesenaufstellung keine großen Sorgen machte. Ich fügte dem Bericht das Walpoles Sammlung entnommene Reliefstück bei, mit der Bitte, ein wissenschaftliches Gutachten darüber einzuholen.

Gegen Morgen träumte ich von Miss Rougon. Ich kann mich nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang, möchte aber notieren, dass es in dieser Nacht zum Mittwoch, dem 22. August, zum ersten Mal geschah. Genau wie Nathan F. Walpole in seinem so nüchtern geführten Tagebuch nannte ich sie im Traum einfach „Helen“. Es war eine lächerliche Geschichte, Ergebnis alberner Gedanken, die ich mir aus dem Kopf schlagen musste.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Erstmals 2014 gab die Gemeinde Pinnow über EDITION digital als Eigenproduktion „Die Burg im See. Märchen aus Pinnow und aus Godern“ von Hans Stamer mit wunderbaren Illustrationen von Ines Höfs heraus: Das Buch enthält 11 Märchen aus Pinnow und aus Godern, die sich Hans Stamer ausgedacht und seinen Kindern in der Nachkriegszeit an langen Winterabenden erzählt hat. Dazu noch zwei Adventsgedichte. Sie spielten alle an Orten, die den Zuhörern bekannt waren, wie z.B. die Geschichte von dem Zwerg auf der Insel. Gemeint ist der Fischer- oder Burgwerder. Auf seinem baumbestandenen Hügel an der Nordseite der Insel wuchsen (und wachsen vielleicht immer noch?) auch die Äpfel, Birnen und Kirschen, die in der Geschichte eine Rolle spielen, tatsächlich, allerdings in ihrer winzigen, ziemlich bitteren und sehr sauren Wildform. In der Not nach dem Krieg wurden sie mit Fleiß geerntet und verspeist. Hunger treibt`s rein!

Die Geschichte von der Riesenburg ist ebenfalls dem Burgwerder gewidmet und nimmt Bezug auf die vielen Steine auf dem Seegrund ringsum und auf die Reste einer Brücke zwischen der Insel und dem Steinernen Tisch am gegenüberliegenden Ufer, an denen nur allzu häufig die Netze der Fischer hängen blieben und zerrissen. Die alten Sagen deuten an, und die jüngsten Ergebnisse archäologischer Forschungstaucher weisen nach, dass in uralten Zeiten wohl wirklich eine Brücke die Insel mit dem Ufer am späteren Steinernen Tisch verbunden hat. Die Pfahlreste, die die Taucher fanden, stammen zweifelsfrei aus slawischer Zeit. Dass der Sohn des Großherzogs, der den damaligen Gerüchten nach die Brücke für seine heimlichen Rendezvous auf dem lauschigen Eiland habe bauen lassen, erweist sich so als schöne Sage. Die Jungfrau an der Quelle spielt an der Tremünz, der großen Quelle am Waldweg zwischen Godern und dem Steinernen Tisch, etwa auf Höhe von Burgwerder. Rings um den Pinnower See gibt es eine ganze Reihe von Quellen, die von den umgebenden mehr oder weniger hohen Hängen in den See rieseln. Da niemand etwas mit dem Namen verbinden konnte und bis heute nicht kann, hieß die Quelle bei allen eben einfach nur „die Quelle“ und jeder wusste, was gemeint war. Der Platz an dem lichten, sanft abfallenden Ufer zog besonders die Kinder des Dorfes an. Wann immer Zeit und Witterung es zuließen, ging es an „die Quelle“ zum Spielen. Hier wurden Sümpfe trockengelegt, Wasserfälle und Staudämme gebaut. Es gab Mühlen, Brücken und … nasse Füße. Es war herrlich, damals wie heute. Sagen oder Anekdoten gibt es von dieser Stelle nicht. Das wollte dem Autor anscheinend nicht so recht gefallen. Und so erfand er kurzerhand dieses Märchen. Die Anregung für das Märchen von der Schlüsselblumeninsel lieferte das fantastische Schlüsselblumenmeer auf der Insel Flakenwerder – auch Priesterwerder genannt, da sie zur Pinnower Pfarrgemeinde gehört -, das noch weit in die 1960er Jahre hinein im Frühsommer die Insel bedeckte. Inzwischen ist es, warum auch immer, verschwunden und nur hier und da erinnert ein vereinzeltes Primelchen an die einstige Pracht. Ob die Entstehungsgeschichte des „modderigen“ Binnensees und des kleinen, inzwischen stark verlandeten Hilligen-Sees in den Kindern die Abneigung gegenüber dem einen und die Scheu vor dem anderen befestigte oder erst weckte, bleibt offen. Fest steht, dass beide nicht besonders beliebt waren und dem Vergleich mit der klaren Weite des Pinnower Sees nicht Stand hielten. Die Vertrautheit (der Dorfjugend) mit den kleinen Unterirdischen aus dem Peters- oder Petermännchenberg wurde durch die Geschichten zumindest befestigt. Hier ein Beispiel, in dem auch die oben erwähnten durstigen Zwerge vorkommen:

„Der Hilligen-See

Zwischen dem Petersberg und dem Dorf Petersberg gibt es einen kleinen See, den Hilligen-See. Er liegt in einer Senke und hat weder Zu- noch Abfluss. Aber sein Wasser ist trotzdem sauber und klar. Von allen Seiten fallen die Felder sandig zu ihm herab. Und von Norden schaut grüßend der Petersberg herunter. Der Hilligen-See war nicht immer an diesem Ort. In uralten Zeiten gab es an seiner Stelle einen Berg, der fast ebenso stattlich war wie der Berg des Zwergenvolkes. Dass er heute verschwunden ist, kam so:

Auf diesem zweiten Berg stand einmal eine prachtvolle Burg. Sie wurde bewohnt von dem mächtigen Herrn Bille. Zu seinem Besitz gehörten fruchtbare Felder, fischreiche Seen und ausgedehnte Waldungen im weiten Umkreis, dazu zahlreiche Dörfer und Dienstleute. Herr Bille war ein gerechter Mann, der mit Weitblick und Klugheit den Wohlstand und die Zufriedenheit der Menschen mehrte, soweit sein Arm reichte.

Mit den Zwergen im Berg nebenan, die man auch die Unterirdischen oder Petermännchen nannte, hielt er ebenfalls gute Nachbarschaft. In einem Kellerraum seiner Burg, zu dem die Zwerge durch einen unterirdischen Gang Zutritt hatten, stand von dem Bier, das in der Burg gebraut wurde, immer ein kleines Fass für sie bereit. Und er achtete sorgfältig darauf, dass das Fass immer gefüllt war, denn die Unterirdischen liebten dieses Bier, konnten selbst aber keines brauen.

Dafür gab es in der Burg keine Unglücksfälle, keine Feuersbrunst und keine Krankheiten, weder bei den Menschen noch bei den Tieren. So war es schon zur Zeit der Väter des Herrn Bille gewesen. Und als er sich zum Sterben legte, übergab er seinem Sohn die Herrschaft mitsamt den Schlüsseln zu dem Keller mit dem Gebot, es zu halten wie er selbst und die lange Reihe der Ahnen vor ihm. Eines Tages beschloss der neue Burgherr zu heiraten. Er ritt in die Ferne, um sich eine Frau zu suchen. Er fand auch glücklich eine, die ihm gefiel und kehrte mit ihr heim.

Leider war die junge Frau nicht nur schön, sondern auch stolz und hartherzig. Ihr gefiel die Freundlichkeit nicht, mit der ihr junger Gemahl die Leute in der Burg und im ganzen Land und vor allem die Unterirdischen im Berg nebenan behandelte. „So wirst du es nie zu etwas bringen“, hielt sie ihm vor. „Die Leute werden träge, wenn man sie zu gut behandelt und nutzen dich aus. Und die Zwerge könnten für ihr Bier ruhig etwas bezahlen.“

Zuerst hörte der junge Herr Bille nicht auf sie, verbot ihr sogar solche Reden. Doch sie ließ nicht locker. Immerfort lag sie ihm in den Ohren. Und langsam, ohne dass er es recht merkte, änderte sich seine Art. Er wurde ebenfalls hart und ungerecht. Und im Leben der Menschen breiteten sich Bosheit und Unzufriedenheit aus wie eine schleichende Krankheit. Nur den Unterirdischen gegenüber änderte er nichts. Und wenn die Frau wegen des schönen Bieres, das man an sie verschwende, lamentierte, warnte er sie. Doch umsonst. Ihr war die gute Meinung der Kleinen egal. Und als das Fass einmal wieder leer war, füllte sie es statt mit Bier mit Wasser. Die Quittung folgte auf dem Fuß. Als am nächsten Tag die Leute aus dem großen Brunnen auf dem Burghof Wasser holen wollten, war er leer. Kein Tropfen war mehr drin. Das war schlimm. Man musste das Wasser für die vielen Menschen, die hier oben lebten, mit Wagen heranschaffen.

Auch sonst gab es mancherlei Unglück, und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wurden die Leute wieder krank. Man konnte sich das nicht erklären. Nur die junge Frau kannte die Ursache. Doch anstatt einzulenken, hetzte sie ihren Mann weiter auf: „Die Unterirdischen sind Schuld an allem!“, was ja in gewisser Weise auch stimmte. Als ihr kleiner Sohn schließlich sogar an einer tückischen Krankheit starb, begann auch der junge Herr Bille, die kleinen Wesen zu hassen.

Als er einmal an ihrem Berg vorüberritt, hörte er es hinter einem Busch kichern. Voller Wut schlug er mit der Peitsche in die Zweige, und als er nachsah, lag ein kleines Männchen am Boden. Er konnte es sehen, weil dem Männchen die Kappe vom Kopf gefallen war. Schnell packte er den Kleinen, warf ihn vor sich aufs Pferd und ritt im Galopp zur Burg. Hier zeigte er ihm den Brunnen. „Nicht eher kommst du frei“, drohte er ihm zornig, „ehe der Brunnen wieder mit Wasser gefüllt ist!“ Das Männchen versprach ihm, alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber vorher müsse er es freilassen. Doch der Herr dachte gar nicht daran und seine Frau lachte höhnisch. „Wirf ihn in den Brunnen“, rief sie. „Denn wenn er erst einmal frei ist, wird er sein Versprechen ganz bestimmt nicht mehr halten.“ Ihr Mann tat es.

Als das Männchen herauszuklettern versuchte, befahl Herr Bille seinen Leuten, ihn mit Steinen zu bewerfen. Aber niemand rührte einen Finger. Alle schauten ihn nur voller Entsetzen an. Da machte sich der junge Bille selber ans Werk. Kaum hatte er den ersten Wurf getan, hörte man es im Brunnen rauschen, als wenn viel Wasser hinein flösse. Bille und seine Frau blickten sich triumphierend an. Sie hatten gesiegt! Die Unterirdischen hatten klein beigegeben!

Das Rauschen wurde lauter. Es schwoll zu einem mächtigen Brausen an. Die Leute erschraken und liefen voller Panik davon. Nur Bille und seine Frau blieben stehen. Da stieg eine riesige Woge aus dem Brunnen empor. Der Brunnenrand stürzte ein. Der Boden ringsum wurde in die Tiefe gerissen und mit ihm Bille und seine Frau. Sie wurden nie wieder gesehen. Das Wasser aber schwoll weiter und weiter. Es unterspülte die Burg und den Berg und überschwemmte das ganze Land. Nur mit Mühe konnten die Menschen in den umliegenden Dörfern ihr nacktes Leben retten, indem sie auf die Dächer ihrer Häuser kletterten.

Gegen Abend kamen die Fluten zum Stillstand, und am nächsten Tag hatten sie sich verlaufen. Dort, wo der Berg mit der Burg gestanden hatte, war jetzt ein kleines Tal. Es war ganz mit Wasser ausgefüllt, das jedoch ebenfalls nach und nach versickerte, bis schließlich ein friedlicher, kleiner See übrigblieb.

Auch mit dem Pinnower See war etwas Merkwürdiges geschehen. Am Eingang zu der tiefen Bucht, die in jener Zeit fast bis an den Berg der Unterirdischen heranreichte, quollen, als die Burg versank, Sand und Moorerde aus der Tiefe. Immer mehr drängte empor, so dass fast die ganze Bucht vom See abgetrennt wurde. So entstand auch hier ein neuer See. Die Leute nannten ihn Billen-See. Später vergaßen sie die Bedeutung des Namens. Aus Billen- wurde Binnen-See. Und so heißt er bis auf den heutigen Tag. Sein Wasser hatte die Klarheit verloren und blieb für immer trübe und moorig. Ein schmales Bächlein bahnte sich mühsam den Weg durch das sumpfige Land und stellte eine notdürftige Verbindung zwischen dem Pinnower See und der ehemaligen Bucht her. Den kleinen See aber in dem Tal, über dem einst die Burg stand, mieden die Menschen als einen verfluchten Ort und nannten ihn Höllen-See. Als es in der Senke zu grünen begann, sah man hin und wieder die Unterirdischen in feierlichem Zuge zu seinen Ufern ziehen. Sie trugen ihre Leichen dorthin, um sie in dem kristallklaren Wasser zu waschen und in ebenso feierlichem Zuge zum Berge zurückzutragen. Respektvoll veränderten die Menschen daraufhin den Namen von Höllen- in Hilligen- = Heiligen-See.

Das Land aber, über das die Flutwelle hinweggegangen war, hatte seine Fruchtbarkeit verloren. Magerer Sand bedeckte die Äcker um den Petersberg, die nur noch karge Ernte gaben. Und auch das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben.

Soweit die Geschichte von der Entstehung des Hilligen-See.“

Erstmals 1991 veröffentlichte Klaus Möckel in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) der  Eulenspiegel Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH seinen Kriminalroman „Eine dicke Dame“: Berlin im Frühjahr 1990. Gauner aller Couleur versuchen bei dem sich ständig ändernden Wechselkurs von Ost- zu Westmark und umgekehrt Geschäfte zu machen. Gunther Krey, ehemaliger Kriminalist und seit kurzem Privatdetektiv, gerät mitten in diese Wirren, als er einer dicken „Dame“ den Ehemann zurückbringen soll. In einer spannenden Handlung schildert der Autor nicht ohne Humor den ersten Fall seines Helden, der nur ein bisschen Geld verdienen will und unvermutet an eine Mordsache gerät. Durch die Darstellung jener schon historisch gewordenen aufregenden Wendezeit erhält der Kriminalroman seine ganz besondere Note. Im folgenden 2. Kapitel lernen wir den Helden näher kennen und erfahren zunächst auch, wie er seinen Hunger bekämpft und welche kriminalistischen Einfälle er hat:

„Mein Mittag bestand aus gelben Erbsen mit Bauchspeck, entnommen einer Blechbüchse vom noch volkseigen genannten Betrieb Ogema/Seehausen; es war preiswert, weil subventioniert, und ich wärmte es in einem kleinen grünen Emailletopf auf. Während ich die Erbsen löffelte und Brot dazu aß, dachte ich zunächst über das griechisch klingende Wort Ogema nach – mit detektivischem Scharfsinn vermutete ich. dass es sich um eine Abkürzung von Obst- und Gemüseanbau handeln könnte. Dann nahmen meine Überlegungen eine andere Richtung… dass ich mit meinen sechsunddreißig Jahren allein in dieser Zweizimmeraltbauwohnung hockte und meine Existenz fristen wollte, indem ich für dicke Damen die entlaufenen Männer aufspürte, zeugte nicht gerade von berauschenden Erfolgen. Nun gut, ich war endlich mein eigener Herr, niemand konnte mir mehr dreinreden. Ich hatte die Hälfte meiner Wohnung zum Büro umgemodelt und ein Schild an der Tür angebracht: „DETEKTEI GUNTHER KREY“ – die Reimerei mochte albern sein, doch ich hoffte, dass sie sich mit der Zeit den Kunden einprägte. Ich baute auf die Zukunft. Aber baute ich nicht vielleicht erneut falsch? In manchen Augenblicken schien mir nichts auf dieser Welt mehr sicher.

Andererseits, was hätte ich sonst tun sollen. Alles war zwangsläufig so gekommen, die Trennung von Ingrid, die ihrem Handballtrainer den Vorzug gab. und der Krach mit Mellheimer, meinem Chef. Mein Ausscheiden aus der Kripo, als im Land schon alles drunter und drüber ging, war vorprogrammiert. Ja – ich hatte an diesen Staat geglaubt, in den ich hineingeboren wurde und an dem mein Vater, Emigrant während des Krieges, mitgebaut hatte. So fest glaubte ich an ihn und die mir vermittelten Ideale, dass ich lange Zeit die Argumente seiner Gegner für bloße Propaganda hielt. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Beschränkungen für den Normalbürger sah ich als notwendig und vorübergehend an, und als ich Einblick in die Akten eines hohen Parteifunktionärs bekam, der Schiebereien mit Baumaterial betrieb, betrachtete ich das als unrühmliche Ausnahme. Doch der Funktionär ging straffrei aus, und das war kein Einzelfall. Während wir die kleinen Diebe und Schieber mit der Härte unserer Gesetze verfolgten, konnten sich Leute in bestimmten Positionen mit allem versorgen, was ihnen gefiel. Nach eigenem Recht. Da war Münzer, ein Bezirkssekretär, der gegen ein lächerliches Entgelt wertvolle Hölzer für den Eigenbedarf bezog und auch seine Kinder damit versorgte. Ein Prozess stand an, er wurde niedergeschlagen. Eine Schweinerei – ich besprach das mit Mellheimer, bekam privat auch Recht, wurde jedoch, als ich keine Ruhe gab, zum Schweigen vergattert. Ich nahm das nicht hin, redete mit Kollegen darüber, versuchte, einen mir bekannten Reporter zu interessieren. Es gelang nicht, er hob sofort beide Hände, sah keine Möglichkeit, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen. Damals gab ich noch klein bei und kam im Dienst mit einem Verweis davon. Doch der Frust, meine Unzufriedenheit wuchsen. Den Mut zur Kündigung fand ich allerdings erst später, erst im vorigen November…

Nach dem Essen telefonierte ich mit Mutter und stellte danach ein paar Daten für einen Bericht zusammen, den ich einem anderen Kunden versprochen hatte. Zum Abend hin machte ich mich dann auf. Ich wollte in der „Hexenbar“ ein bescheidenes Berliner Pils trinken.

Ich war noch nie dort gewesen, kannte eigentlich nur die Lokalitäten in den nördlichen Randbezirken, wo ich zu Beginn der achtziger Jahre einige Monate Streifendienst getan hatte. Diese Bar dagegen befand sich im Stadtinnern, in der Nähe der Volksbühne. Als ich ankam, hätte ich sie fast übersehen. Sie machte äußerlich nicht viel her, wirkte eher abgewrackt. Innen allerdings war sie vornehm hergerichtet. Die Wände nicht holzverkleidet, wie man das jetzt ständig sah, sondern mit einer Art Leder bespannt und mit allerlei Lampen bestückt. Ovale Tische und Stuhlsessel in Rotbraun, ein Tanzpodest, auf dem später am Abend wohl auch Vorführungen stattfanden; Striptease war dabei nicht mehr ungewöhnlich. Ein Tresen mit Hockern, Vitrinen und Bords mit den üblichen Flaschenbatterien und Zigarettenmarken. Gläser, Nippes, irgendwelcher Schnickschnack aus der plötzlich weit gewordenen Welt.

Das Licht ein bisschen schummrig, aber nicht zu dunkel, der Raum lang gestreckt. Allerdings schien es vorn größere Nischen zu geben. Eine davon war besetzt, offenbar Wessis, die ein preiswertes Abendbrot einnahmen.

An der Bar saß ein großer Kerl mit Fuchsgesicht: rötliches Haar, schräge Augen und Backenknochen, die eng beieinander lagen. Er schlürfte einen Cocktail, dabei betrachtete er interessiert den Hintern der Bardame, die Pralinenpackungen in eine der Vitrinen räumte. Ich ging an einem weinnuckelnden Pärchen vorbei zum Tresen, schwang mich auf einen Hocker. Die in Silbergrau gehüllte Schankfrau wandte mir ihren Busen und ihre Aufmerksamkeit zu.

„Ein Pils“, forderte ich freundlich, „nicht so kalt.“

Das Fuchsgesicht, drei Hocker entfernt, entließ den Trinkhalm aus dem Mund und sah mich überrascht an.

„Bier servieren wir nur an den Tischen“, erläuterte die Schankfrau. „Zum Essen.“

Nobel, nobel, dachte ich, aber das wird sich bald ändern. Die nahende Vereinigung der deutschen Lande und das harte Geld werden schon für einen kundenfreundlichen Service sorgen. Doch ich sagte höflich: „Wie wär’s mit einer Ausnahme. Solange sich in diesem Etablissement noch nicht die Gäste drängen.“

Sie schien unschlüssig. Ich streichelte mit meinem Blick ihren Deltaausschnitt und schaute ihr in die Augen. Sie fragte: „Nehmen Sie einen Whisky dazu?“

„Einen Wodka Gorbatschow.“

„Sie haben Humor, was? Aber die Sorte ist zur Zeit nicht vorrätig.“

„Na gut, dann einen Korn.“

Sie stellte mir das Bier und den Schnaps hin und widmete sich wieder ihrer Vitrine.

Der Fuchsgesichtige machte das Maul auf: „Zum ersten Mal hier, stimmt’s?“

„Das kann ich nicht leugnen. Man muss ab und zu was Neues ausprobieren.“

„Mit dem Bier hast du Glück, das hätte sie nicht jedem gegeben.“

Ich nippte am Glas. „Den ersten Schluck auf die nette Bedienung“, murmelte ich.

„Schon recht, kratz dich nur ein bei ihr.“

Die Silbergraue, ohne sich umzudrehen, bemerkte: „Quatsch nicht so kariert, Ulli. Du weißt, dass nicht ich die Regeln hier erfunden hab‘.“

„Ich würd‘ mich noch mehr einkratzen“, erwiderte ich, „aber ich hab" in diesem Lokal eine Verabredung.“

Sie bekundeten beide ein gewisses Interesse an meinen Worten, es war klar, dass sie sich um diese Stunde langweilten und für jede Ablenkung dankbar waren.

„Mit ’nem Mädchen namens Rena“, fügte ich träumerisch hinzu.

Die Bardame drehte sich nun wieder um. Lässig, sie warf mir einen prüfenden Blick zu, als wollte sie meine Fähigkeit im Verhalten bei Rendezvous abschätzen. Das Fuchsgesicht sagte: „Schön, wie du uns das mitteilst. Du singst es ja geradezu.“

„Weil die Frau einfach Musik ist. So ’ne Schlanke, Schwarzhaarige. Model von Beruf. Vielleicht kennt ihr sie?“

„Schlanke, Schwarzhaarige gibt’s viele“, erwiderte Ulli. „Hab‘ schon mancher ’nen Martini spendiert. Rena, sagst du? Weshalb sollten wir sie kennen?“

„Ich glaub‘, sie ist öfter hier.“

„So, hat sie das erzählt? Wo hast du sie denn aufgerissen?“

„Hab‘ sie auf der Straße getroffen. Wir kamen ins Gespräch.“

Die Bardame mischte sich ein. „Ich könnte mir schon denken, wen Sie meinen. Sie trinkt nicht gerade Martini, eher einen guten Weinbrand. Rena heißt sie, stimmt, Vorwitz, Vorweg oder so ähnlich. Wundert mich aber, dass sie sich mit Ihnen verabredet hat. Sie war eine Weile nicht bei uns.“

„Weshalb sollte sie sich nicht mit ihm in der Bar verabreden , bloß weil sie eine Weile nicht hier war?“, fragte das Fuchsgesicht.

„Jemand hat gesagt, sie sei mit einem Bekannten weggefahren. Wann haben Sie Rena denn getroffen?“

„Vor drei Tagen“, erwiderte ich vorsichtig, „nein, vor vier. Das kann nicht sein, dass sie mit ’nem Bekannten weg ist. Davon hat sie nichts erzählt. Wer soll der Mann sein, und wohin ist sie gefahren?“

„Tut mir leid, das weiß ich nicht.“ Die Schankfrau hob bedauernd die Schultern. „Vielleicht handelt sich’s doch um eine andere.“ Sie wandte sich einem Pärchen zu, das mittlerweile an der Bar Platz genommen hatte.

Ich kippte meinen Korn und trank mein Bier zu Ende. Ich hatte die Sache nicht gerade geschickt angefangen, hätte vielleicht direkter fragen sollen. Aber ich wollte nicht jedem auf die Nase binden, wer ich war. Scheinbar nervös, schaute ich mehrfach auf meine Uhr und zur Tür. Neue Gäste kamen, diejenige, auf die ich angeblich wartete, war natürlich nicht dabei. Das Fuchsgesicht griente schadenfroh. „Sie hat dich versetzt, die Hübsche, hat dich auf den Arm genommen.“

„Ich kann es mir einfach nicht vorstellen“, murmelte ich scheinheilig.

„Mach dir nichts draus, die Weiber sind so. Wenn du meine Erfahrung hättest…“

Er mochte etwas älter sein als ich, aber nicht viel. Offenbar ein kleiner Angeber. Auf seine Erfahrung konnte ich im Augenblick verzichten. Ich bat die Schankfrau: „Wer hat Ihnen das mit dieser Rena erzählt? Vielleicht ist es doch meine.“

„Tino, der Kellner dort drüben. Er kennt sie besser als ich.“

Ich glitt vom Hocker und wandte mich an den Kellner. Er wusste nicht viel, bestätigte aber immerhin den Namen: Rena Vorweg. Außerdem war er der Meinung, dass sie in der Nähe wohnte. Im Telefonbuch, das er mir im Austausch gegen einen Fünfmarkschein für ein paar Minuten zur Verfügung stellte, fand ich die genaue Adresse. Ich durfte auch anrufen, doch es meldete sich niemand. Dennoch beschloss ich, bei ihr vorbeizuschauen. Es war noch nicht allzu spät, und ich wollte sichergehen.“

Klaus Möckel ist auch der Autor eines wunderschönen Kinderbuches mit Grusel-Grauselgeschichten, das 2003 in der Edition D.B. in Erfurt erschien – „Ein Hund mit Namen Dracula“: Tina, in eine Höhle verschlagen, muss eine Nacht mit angriffslustigen Gespensterfischen verbringen; Steffen, der von Mitschülern Schutzgeld erpresst, wird vor ein Geistergericht zitiert, wo ihn der gefährliche Hund Dracula in Schach hält; Annika soll einem Toten helfen, die ewige Ruhe zu finden, und Karli setzt sich verzweifelt gegen blutsaugerische Skelette zur Wehr. Neun grausel-gruslige Geschichten sind in diesem Band vereinigt. Sie führen auf spannende und oft humorige Weise in Vergangenheit oder Zukunft, in verborgene jenseitige und doch auch wieder sehr nahe abenteuerliche Welten. Hier aber sind wir zunächst an der Seite von Tina:

Die Nacht mit den Fischen

Tina glaubte alle Zeit der Welt zu haben, um unbeschadet ans Ufer zu gelangen, sobald die Flut kam. Zwar hatte sie sich weit hinaus in die Steine gewagt, doch sie konnte ja gut schwimmen und schnell laufen. Nur deshalb hatte sie so lange nach Muscheln gesucht und in der Sonne auf dem kleinen Plateau gelegen. Auch als die Wellen schon an ihren Zehen leckten, hatte sie noch keinerlei Bedenken.

Sie zog das T-Shirt und die Jeans über, nahm Schuhe und Handtuch in die Hand, rollte ihre Matte zusammen und sprang zum nächsten Stein. Da fuhr ihr ein stechender Schmerz ins Bein. Sie hatte nicht richtig hingeguckt und war abgerutscht.

Das Mädchen schrie auf und hockte sich hin. Die Oberfläche des Steins war noch trocken und sie versuchte erst einmal, den gestauchten Fuß zu bewegen. Nein, auftreten konnte sie nicht, da war etwas verrenkt oder gar gebrochen. Wie sollte sie jetzt ans Ufer kommen?

Weit und breit keine Menschenseele! Das war auch klar, denn hierher verirrte sich niemand so leicht. Die Eltern waren nie mit ihr zu dieser Stelle gegangen und gerade das hatte sie gereizt. Heute, wo sie ihre blöde Busfahrt machten, hatte sich endlich die Gelegenheit ergeben, diese geheimnisvolle Bucht in Augenschein zu nehmen. Und nun dieses Pech!

Tina raffte ihre Kräfte zusammen und humpelte los. Auf einen Stock gestützt, der im Schlick lag. Es ging schlecht, nach zehn Schritten schon musste sie sich hinsetzen. Dabei hatte sie wirklich keine Zeit mehr. Es war schon erstaunlich, wie schnell das Wasser stieg.

Am besten, sie lief zur vorgeschobenen Landspitze mit ihrer Steilküste! Das konnte sie schaffen – der Weg war nicht so weit. Humpelnd und heulend vor Schmerz arbeitete sich Tina voran. Das Wasser umspülte ihre Füße und schaffte etwas Linderung, gleichzeitig aber wurde das Gehen mühevoller und die Kräfte ließen nach.

Sie erreichte erschöpft das Steilufer. Die Wellen rollten bereits in Kniehöhe heran und Tina blieb keine Zeit zum Ausruhen. Die Springflut kam, sie musste einen Weg nach oben finden. Doch eine Kletterkünstlerin war sie nie gewesen.

Als sie den Höhleneingang in etwa drei Metern Höhe entdeckte, atmete sie etwas auf. Ob das Wasser bis dorthin kam? Egal, sie hatte nur diese Möglichkeit. Zum Glück gab es hier genügend Vorsprünge, so dass sie sich, samt Bündel und Stock, hinaufhangeln konnte.

Ein Gang führte ins Berginnere, doch das interessierte Tina im Moment nicht. Die kleine Plattform vorn genügte ihr, dort konnte sie sogar noch in der Sonne sitzen. Allerdings war es mittlerweile später Nachmittag. Heute würde sie bestimmt nicht mehr von hier wegkommen.

Tina dachte an ihre Eltern, die in der Nacht ins Urlaubsquartier zurückkehren würden. Wenn sie die Tochter nicht antrafen, würden sie sich mächtig aufregen und Angst um sie haben. Doch daran konnte sie nichts ändern. Erst Stunden später würde die Flut wieder zurückgehen, vorläufig stieg sie noch. Sie würde bald die Plattform erreicht haben. Das Mädchen schaute einige Zeit zu, dann beschloss sie, sich für alle Fälle in der Höhle umzusehen.

Sie humpelte durch einen engen Gang, der leicht anstieg. Schauerlich war es hier, feucht und voller unerklärlicher Geräusche. Es gluckste und rauschte, Tropfen fielen von den Wänden, glitten Tina den Rücken hinunter. Dann war der Gang zu Ende und sie stand zu ihrer Überraschung in einer weit gedehnten Grotte. Eine hohe Decke und zu ihren Füßen Wasser. Hinter einer Art Graben aber lag erhöht eine kleine Insel.

Tina wollte zum Plateau zurück, da kam ihr bereits Wasser entgegen. Kein Zweifel, es war besser, hier drin abzuwarten, am besten auf der Insel. In der Grotte war es nicht gerade warm, doch einige Stunden würde sie schon durchhalten.

Tina zog die Jeans aus und begann durch den Graben zu waten. Vorsichtig und in der Hoffnung, dass er nicht allzu tief war. Ein grünliches Licht kam von oben, drang offenbar durch irgendwelche Felsspalten. Viel konnte sie nicht erkennen, aber sie kriegte mit, dass das Wasser klar war. Der Boden war fest, nur ab und zu tappte sie in Schlamm.

Sie war in der Mitte des etwa zwanzig Meter breiten Grabens, stand fast bis zur Hüfte im Wasser, als ihr etwas ans Bein glitschte. Gleichzeitig gab es einen Platsch hinter ihr, so dass sie erschrocken zusammenzuckte. In dem Wasser waren Fische und sie mussten groß sein. Der an ihrem Bein hatte sich wie ein schlabbriger Schwamm angefühlt.

Tina erstarrte und bemühte sich, das Wasser auszuforschen. Hoffentlich keine Schlangen oder Echsen, die womöglich noch an Land kamen. Sollte sie zum Höhlenausgang zurück? Doch das ging nicht, die Flut überspülte bereits den Gang.

Plötzlich sah Tina einen der Fische. Er schwamm genau vor ihr und glotzte sie an. Er war fast einen Meter groß und hatte so etwas wie ein Gesicht. Als sie eine Bewegung machte, glitt er träge zur Seite. Und nun erblickte das Mädchen auch die anderen. Ganze Scharen umringten sie, waren neben, hinter und vor ihr. Wo kamen die auf einmal alle her?“

Erst vor wenigen Wochen veröffentlichten Heinz Falkenberg und Gottfried Holzmüller als Eigenproduktion von EDITION digital „Um den Schweriner Außensee – Geschichten, Sagen und Wanderungen“. Die Beiträge in diesem Buch enthalten Vorschläge für Wanderungen und Fahrten um den Schweriner Außensee. Dabei werden die besuchten Orte, ihre Geschichte, Sehenswürdigkeiten, Sagen und touristischen Möglichkeiten beschrieben. Im Anschluss wird die geografische und frühhistorische Entwicklung der Region um den Schweriner See wiedergegeben. Für Leser, die gerne in alten Geschichten kramen, machen die Autoren, beide Mitglieder im Kulturverein Sagenland Mecklenburg-Vorpommern e. V., auf die in den jeweils besuchten Ortschaften erzählten Sagen aufmerksam und weisen unter der Rubrik „Touristische Informationen“ auf die Sagensteine und ihre Geschichten hin. Besuchen Sie auf Ihren Wanderungen zu Fuß oder mit dem Fahrrad Hohen Viecheln, die Döperegion, Flessenow, Retgendorf, Rampe, den Paulsdamm, Wickendorf, Seehof, Hundorf, Lübstorf, Wiligrad, Gallentin, die Insel Lieps und Bad Kleinen. Oder unternehmen Sie eine Rundfahrt mit dem Auto. Hier der Anfang der Reise:

1 Hohen Viecheln

Wegbeschreibung: Wir wollen unsere Reise um den Schweriner Außensee im Ort Hohen Viecheln beginnen. Natürlich ist dieser kleine Wanderführer so angelegt, dass man von jedem der erwähnten Orte die Tour aufnehmen kann. In der Reihenfolge der Ortschaften und Flurstücke sollen von Hohen Viecheln aus die Objekte Döperegion, Flessenow, Retgendorf, Rampe, Paulsdamm mit Ramper Moor, Wickendorf, Seehof, Hundorf, Lübstorf, Wiligrad, Gallentin, Insel Lieps und Bad Kleinen betrachtet werden. Alle diese Namen findet man zur Orientierung auf der folgenden Karte verzeichnet.

Das Dorf Hohen Viecheln

Das Dorf Hohen Viecheln bildet sozusagen die Krone des Schweriner Außensees, denn der Ort liegt genau am nördlichen Scheitelpunkt des Sees. Neben dem Hauptort Hohen Viecheln gehören heute die weiter nördlich gelegenen Ortsteile Moltow, Hädchenshof (1816 aus der Feldmark gegründet) und Neu Viecheln (1846 gegründet) zum Gemeindeareal. Die Gesamtfläche des Dorfes umfasst 1 825 Hektar. Hier leben zurzeit etwa 680 Menschen. Die Landesstraße L 031 führt über die Fritz-Reuter-Straße durch den Ort. Eine imposante Kirche im gotischen Baustil fällt sofort ins Auge. Durch seine Lage am Schweriner See inmitten weiter Ackerflächen, Wälder und Landschafts- und Naturschutzgebiete ist das Dorf für Touristen und andere Erholungssuchende sehr interessant.

Zur Geschichte des Ortes

Funde aus der mittleren Steinzeit haben Hohen Viecheln bekanntgemacht. Ebenso bestätigen Funde aus der jüngeren Steinzeit und der Eisenzeit, dass diese Region schon früh bewohnt wurde. Aus der germanischen und slawischen Besiedlung des Ortes sind keine Funde erhalten geblieben. Auf die slawische Besiedlung der Region weist der heutige Ortsname hin. Der Name „Vichele“ bedeutet im ursprünglichen slawischen Sprachgebrauch etwa „Kleiner Ort abseits im Gebüsch, Gestrüpp“. Den Zusatz „Hohen“ zu Viecheln erhielt der Ort aber erst sehr viel später, um 1715.

Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes als Vichele erfolgte im Jahr 1178: In einer Urkunde, die der damalige Bischof Berno ausstellen ließ, wurde der Pfarrer Simon (Symon) aus Vichele als Zeuge genannt. Somit bestand eine der ältesten Kirchengemeinden im Fürstentum Mecklenburg im jetzigen Hohen Viecheln. Mit der Einsetzung von Pribislav, einem Sohn Niklots, als erstem Fürsten im deutsch-sprachigen Mecklenburg, gehörte der Ort Vicheln zu seinem unmittelbaren Burgbezirk, dem Areal der Mecklenburg.

Spätere mecklenburgische Fürsten verliehen um 1240 Vicheln an ihren Vasallen Helmold von Plessen, welcher gleichzeitig Burghauptmann der Fürstenburg in Wismar wurde. Im Dorf bestand seit jeher als Familienbesitz ein Gutshof. Die Familie der Plessen ließ auch die imposante Kirche im Ort errichten. Annähernd 300 Jahre besaß die Adelsfamilie derer von Plessen das genannte Dorf.

Dann verkauften Nachkommen dieser Familie das Dorf 1507 an die Schweriner Herzöge Heinrich und Albrecht. Bis etwa 1840 blieb der Ort im herzoglichen Besitz, wobei der jeweilige Herzog bis 1918 auch Patron der Kirche im Dorf war. In dieser Zeit existierte hier ein domanialer Gutshof, der von einem Vogt verwaltet wurde.

Um das Jahr 1845 erhielt das Dorf Hohen Viecheln den Status einer selbstständigen Gemeinde und das herzogliche Gut wurde weitgehend in kleinere und mittlere Bauernstellen umgewandelt.

Zum Ende des 2. Weltkrieges trafen sich am 4. Mai 1945 bei Hohen Viecheln englische und sowjetische Armee-Einheiten und die letzten deutschen Wehrmachtseinheiten mussten hier am Ort kapitulieren. Nach der kurzen Besatzungszeit der Engländer gehörte Hohen Viecheln zur sowjetischen Besatzungszone. Durch die Bodenreform und die spätere Bildung einer LPG blieb Hohen Viecheln zu DDR-Zeiten weitgehend von der Landwirtschaft geprägt.

Sehenswürdigkeiten

Kirche: Mitten in Hohen Viecheln erhebt sich stattlich die dreischiffige Hallenkirche auf einer Anhöhe über dem Schweriner See. Besonders sehenswert im Ort ist sie dadurch, dass sie im hochgotischen Stil aus Backsteinen erbaut wurde. Im Gegensatz zu vielen Kirchen der umliegenden Dörfer besteht das zwischen den Jahren 1295 bis 1310 von der damaligen Plessenfamilie errichtete Gotteshaus nicht aus Feldsteinen und unterstreicht so die Bedeutung in der Region. Im Innern sind die Strebepfeiler, welche die Längsschiffe und Joche trennen, durch abwechselnd rot und grün glasierte Ziegel gekennzeichnet. Ihrer Größe und dem einheitlichen gotischen Baustil nach kann man die Viechelner Kirche im Lande Mecklenburg zu den architektonisch herausragenden Kirchenbauten zählen.

An äußeren Mauerverzahnungen ist abzulesen, dass einst ein Turm geplant war, der aber nicht zur Ausführung kam. Von den sechs ursprünglich erhaltenen, alten Glocken hat sich nur die sogenannte Chorglocke, auch „Preesterklock“ genannt, erhalten, die im Jahr 1567 gegossen wurde und damit über 400 Jahre alt ist. Als Besonderheit gilt heute auch eine alte Turmuhr, die nur einen Zeiger besitzt und von Fachleuten als älteste Turmuhr Mecklenburgs gewertet wird.

Neben weiteren Heiligenbildnissen sind die geschnitzten Skulpturen des Ritters Helmold von Plessen (um 1310) sowie einer Madonna (um 1325) in der Kirche besonders beachtenswert. Das Bildnis des Ritters Helmold wird sogar als das zweitälteste profane Schnitzwerk im Mecklenburger Raum angesehen. An der südlichen Seitenwand steht ein Renaissancealtar mit einem imposanten Schnitzwerk, der um 1620 gefertigt wurde.

Die heutigen Einrichtungen mit Altar, Kanzel, Empore und Gestühl entstammen neueren neogotischen Umbaumaßnahmen aus den Jahren 1869/72. Ebenso ist die von Friedrich Wilhelm Winzer gefertigte Orgel in dieser Zeit aufgestellt worden. Eine Broschüre beschreibt ausführlich die Geschichte und Ausstattung der Kirche. Ein Ehrenmal vor der Kirche erinnert an die Gefallenen des 1. und 2. Weltkrieges. …“

Mit diesem Buch und seinen Vorschlägen in der Hand dürfte sich eine solche See-Wanderung ganz sicher gut planen und auch durchführen lassen. Vielleicht sogar noch in diesem Herbst, wo uns ja wohl auch noch ein paar schöne Tage bevorstehen. Aber ganz sicher lohnt sich eine solche „Landpartie“ spätestens wieder ab dem Frühjahr nächsten Jahres, in dem wir hoffentlich nicht mehr so viel mit Corona zu tun haben wie in diesem. Möge es so kommen!

Viel Vergnügen beim Lesen (und beim Wandern). Weiter einen schönen Herbst, bleiben Sie weiter gesund und vorsichtig und bis demnächst.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor fast 26 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.000 Titel. Alle Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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