„Jede Zeit hat ihre eigenen Ausdrucksformen, jede Epoche ihren unverwechselbaren Klang. Aber wieso tun sich heute viele Klassikinteressierte so schwer damit, die Musik kennen und schätzen zulernen, die zu ihrer eigenen Zeit gehört?“, diese Frage beschäftigt Generalmusikdirektor Marko Letonja schon lange und motiviert ihn umso mehr, regelmäßig zeitgenössisches Repertoire in Konzertprogramme der Bremer Philharmoniker aufzunehmen. Für das 10. Philharmonische Konzert am 15./16. Mai hat er Werke von György Ligeti und Peter Eötvös ausgewählt und stellt sie Gustav Mahlers Lied von der Erde gegenüber, mit dem der Komponist vor über 100 Jahren ebenfalls über eine Schwelle zu neuen Klangformen trat.

„Das Publikum wird vielleicht Neuland entdecken bei dieser Expedition ins Hier und Heute. Aber es wird höchstwahrscheinlich auch einige musikalische Inspirationsquellen heraushören können“, verspricht Letonja. Was sich bei Ligetis Lontano zunächst willkürlich und zufällig anhören mag, hat durchaus Methode und schafft einen großen Spannungsbogen. So wird Ligeti auch in Hollywood sehr geschätzt. Die Regisseure Martin Scorsese und Stanley Kubrick gehören zu Fans des ungarischen Komponisten und haben seine Musik in Filmklassikern wie Shutter Island und The Shining eingesetzt. „Die Musik entfaltet sich dem Hörer allmählich, wie wenn man aus grellem Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer tritt und die Farben und Konturen nach und nach wahrnimmt“, so Ligeti selbst über sein Lontano, das zu einem ein Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts wurde. Ebenfalls zu den bekanntesten und renommiertesten Vertretern zeitgenössischer Musik gehört Peter Eötvös, ein enger Freund Ligetis. Für sein Sirens´ Song ließ er sich von der Odyssee des Odysseus inspirieren, wobei er sich dabei nicht nur auf Homer, sondern auch auf Werke von Franz Kafka und James Joyce beruft. „Die Sirenen sind die Musen der Unterwelt. Nicht nur Joyce haben sie verführt, sondern auch alle Komponisten, die versucht haben, hörbar zu machen, was Odysseus nie hören konnte“, so Peter Eötvös über sein Werk. Viele Kompositionen von Eötvös gleichen Kommentaren zu aktuellen Themen. Ob Sirens´ Song ähnlich wie heute Homers Odysseus als Warnung vor den vermeintlichen Verlockungen politischer Demagogen verstanden werden darf, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Letonja großer Wunsch: „Mit diesen beiden Werken möchte ich offene Ohren und aufgeschlossene Gemüter im Publikum erreichen und zwei ausgezeichneten Komponisten unserer Zeit das zuteilwerden lassen, was vor 100 und 200 Jahren in Konzertsälen selbstverständlich war: die Aufführung zeitgenössischer Kompositionen.“

Betörende Klangwelten schuf auch Mahler mit seinem Lied von der Erde, das er selbst eine „Symphonie für Tenor, Alt (oder Bariton) und Orchester“ nannte, ohne ihr eine Nummer zu geben. Nach seiner achten Symphonie war Mahler der festen Überzeugung, dass es niemandem erlaubt sein sollte, Beethovens Gesamtzahl von neun Symphonien zu übertreffen, und dass er, wenn er das Schicksal herausforderte, sein eigenes Ende beschleunigen würde. Doch gerade um Tod und Abschied geht es wie in so vielen anderen auch in diesem Werk Mahlers. Nach dem unerwartet frühen Tod seiner ältesten Tochter, den Intrigen an der Wiener Hofoper und einer niederschmetternden Diagnose geriet Mahler 1909 in eine tiefe Krise. „Ich habe in den letzten anderthalb Jahren so viele Erfahrungen gemacht, dass ich kaum darüber sprechen kann. Wie soll ich eine so kolossale Krise beschreiben?… Und doch bin ich durstiger denn je nach Leben und finde die ‚Gewohnheit des Lebens‘ süßer denn je,“ schrieb er in einem Brief an Bruno Walther. In dieser schwierigen Phase seines Lebens schrieb er das ergreifende Lied der Erde, das Marko Letonja und die Bremer Philharmoniker mit den international gefeierten Gesangstars Katherine Magiera und Simon O´Neill präsentieren werden.

Das Programm

György Ligeti (1923–2006)

Lontano für großes Orchester

Uraufführung am 22. Oktober 1967 in Donaueschingen

Peter Eötvös (*1944)

Sirens` Song für Orchester

Uraufführung am 25. März 2021 in Pécs                

Gustav Mahler (1860–1911)

Das Lied von der Erde

  1. Das Trinklied vom Jammer der Erde (Li-Tai-Po, erste Hälfte von Lied vom Kummer)
  2. Der Einsame im Herbst (Qian Qi, erster Teil von Gedicht im alten Stil: Lange Herbstmonate)
  3. Von der Jugend (Li-Tai-Po, einige wenige Verszeilen aus Bankett im Pavillon der Familie Táo)
  4. Von der Schönheit (Li-Tai-Po, Lotospflücklied)
  5. Der Trunkene im Frühling (Li-Tai-Po, Gefühle beim Erwachen aus einem Rausch an einem Frühlingstag)
  6. Der Abschied (Mong-Kao-YenÜbernachtung in Meister Yès Bergklause, umsonst auf Bruder Dīng wartend, und Wang-WeiAbschied)

Uraufführung am 20. November 1911 in München

Marko Letonja, Dirigat

Katherine Magiera, Alt

Simon O´Neill, Tenor

WAS              

Betörende Verführung

10. Philharmonisches Konzert der Bremer Philharmoniker           

WANN

Montag, 15. Mai 2023, 19.30 Uhr

Dienstag, 16. Mai 2023, 19:30 Uhr

WO                

Konzerthaus Glocke

Domsheide 4/5

28195 Bremen

Informationen zu Künstlern und Programm / Auszüge aus dem Programmheft

Marko Letonja

Dirigat

Seit Beginn der Spielzeit 2018/2019 ist Marko Letonja Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Bremer Philharmoniker. Marko Letonja ist zudem Artistic Director des Tasmanian Symphonie Orchestra, an dem er zuvor von 2011 bis 2018 Chefdirigent war. Unter seiner Amtszeit gelang es ihm, das Tasmanian Orchestra auf ein neues künstlerisches Niveau zu bringen. So gewann er 2017 für die konzertante Aufführung von Wagners Tristan und Isolde mit Nina Stemme und Stuart Skelton den Helpman Award für das beste Konzert eines Symphonieorchesters. Von 2012 bis 2021 war er Chefdirigent des Orchèstre Philharmonique de Strasbourg. Als Gastdirigent arbeitet Letonja mit den Wiener Symphonikern, den Münchnern Philharmonikern, dem Orchestre de la Suisse Romande, den Hamburger Symphonikern, dem Orchester Filamonica della Scala in Mailand und dem Berliner Radio-Symphonieorchester zusammen sowie mit dem Seoul Philharmonic, dem Mozarteum Salzburg, dem Stockholmer Opernorchester, dem Staatsorchester Stuttgart und dem Orchester Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi. Mit einem vielfältigen Repertoire gastiert er des Weiteren u. a. an den Opernhäusern in Wien, Genf, Rom, Dresden, Berlin, Straßburg, München und Lissabon. Zudem ist er gern gesehener Gast in Australien und Neuseeland und wurde 2008 zum Principal Guest Conductor des Orchestra Victoria Melbourne ernannt. Letonja begann sein Studium als Pianist und Dirigent an der Musikakademie von Ljubljana und schloss es 1989 an der Akademie für Musik und Theater in Wien ab. Schon zwei Jahre später wurde er Musikdirektor der Slowenischen Philharmonie in Ljubljana, die er bis zu seiner Ernennung zum Chefdirigenten und Musikdirektor des Sinfonieorchesters und des Theaters Basel leitete. In dieser Zeit begann auch seine internationale Laufbahn als Konzertdirigent.

Katherine Magiera

Alt

Katharina Magiera studierte Gesang bei  Prof. Hedwig Fassbender und Prof. Rudolf Piernay. Sie war Stipendiatin der Villa Musica des Landes Rheinland-Pfalz, der Yehudi Menuhin-Stiftung Live music now, der Studienstiftung des deutschen Volkes und 1. Preisträgerin des Mendelssohn-Wettbewerbs. Ihr breit gefächertes Konzertrepertoire umfasst die Passionen und zahlreiche Bach-Kantaten, die Requien von Mozart, Verdi, Dvořák und Schnittke sowie die Oratorien von Händel, Mendelssohn, Honegger und Szymanowski. Sie arbeitete unter anderem mit Dirigenten wie Constantinos Carydis, Ivor Bolton, Ádám Fischer, Christian Thielemann, Jaap van Zweden, René Jacobs und Robin Ticciati zusammen. Katharina Magiera gehört seit der Spielzeit 2009/2010 dem Ensemble der Oper Frankfurt an. Die Neuproduktion Ulisse von Luigi Dallapiccola der Oper Frankfurt, in der Katharina Magiera die umfangreiche Doppelrolle Kirke/ Melantho verkörperte, wurde 2022 mit dem „International Opera Award für die beste Wiederentdeckung“ ausgezeichnet. 2022 gastierte die Sängerin in der Partie Ježibaba (Rusalka) an der Staatsoper Stuttgart. Im selben Jahr kehrte sie als erste Magd (Elektra), Dritte Dame (Zauberflöte) und als Page in der Neuproduktion von Salomé an die Opéra National de Paris zurück. Anfang 2023 sang sie erneut die Partie der Schwertleite (Walküre) an der Semperoper Dresden unter Christian Thielemann

Simon O´Neill

Tenor

Der Neuseeländer Simon O’Neill hat sich international als einer der führenden Heldentenöre etabliert. Von Kritik und Publikum gleichermaßen hoch gelobt wurden seine Darstellung des Siegmund (Die Walküre) am Royal Opera House Covent Garden, an der Mailänder Scala, der Berliner Staatsoper und an der Metropolitan Opera. Simon O’Neill debütierte bei den Bayreuther Festspielen als Lohengrin in der Inszenierung von Hans Neuenfels und kehrte dorthin als Parsifal in der berühmten Inszenierung von Stefan Herheim zurück. Er war zudem als Lohengrin, Florestan (Fidelio) und Stolzing (Die Meistersinger von Nürnberg) zu erleben. Weiter sang er Cavaradossi (Tosca) in Tokyo, Berlin und Hamburg, Florestan an der Houston Grand Opera und Siegmund sowohl an der Berliner als auch an der Hamburgischen Staatsoper. Simon O’Neill studierte an der University of Otago, Victoria University of Wellington, Manhattan School of Music und dem Juilliard Opera Center New York. Er erhielt das Fulbright Stipendium, wurde 2005 als Arts Laureate of New Zealand ausgezeichnet und war 2002 Finalist der Metropolitan Opera National Auditions.

György Ligeti (1923–2006)

Lontano für großes Orchester

Zu Beginn erklingt nur ein einzelner Ton, doch dieser Ton verändert sich: die Klangfarbe changiert, Instrumente treten hinzu, werden wieder ausgeblendet. Zunächst fast unmerklich verdichtet sich das musikalische Geschehen immer weiter. Der Orchesterklang weitet sich aus, mäandert quer durch das dynamische und klangfarbliche Spektrum. Es entstehen Klangballungen, orchestrale Eruptionen, pulsierende Klangflächen. In seinen Programmhinweisen gab Ligeti eine technische Beschreibung der komplexen Mikropolyphonie des Werks: „Die ,harmonische Kristallisation` im Bereich der Sonorität führt zu einem intervallisch-harmonischen Denkprozess, der sich dadurch radikal von der traditionellen und auch atonalen Harmonik unterscheidet. Technisch gesehen wird dies mit Hilfe polyphoner Methoden erreicht: Fiktive Harmonien entstehen aus einer komplexen vokal gewebten Textur, allmähliche Opazität und neue Kristallisation sind das Ergebnis diskreter Veränderungen in den einzelnen Teilen. Die Polyphonie an sich ist kaum wahrnehmbar, aber ihre harmonische Wirkung stellt das eigentliche musikalische Geschehen dar: Was auf dem Blatt steht, ist Polyphonie, aber was man hört, ist Harmonie.“ Mit anderen Worten: Ligeti schichtet simultane musikalische Abläufe in verschiedenen Geschwindigkeiten übereinander. Als Ergebnis der höchst kunstvollen Kombination all dieser Parameter scheint die Zeit in dem Stück regelrecht stillzustehen. Die italienische Vortragsanweisung ‚lontano‘ bedeutet im Übrigen ‚weit weg‘ bzw. ‚entfernt‘ und gibt an, dass ein Spieler beispielsweise hinter der Bühne zu spielen hat, damit seine Stimme klingt, als komme sie aus großer Entfernung. Ligeti hat diese Spielanweisung hier zum musikalischen Prinzip erhoben. Als Gegenentwurf zur seriellen Musik seiner Zeitgenossen kreierte er eine Klangflächenmusik, ein Stilmittel, das Ligeti als das „Einander-Ablösen und Ineinander-Verfließen klingender Flächen und Massen“ beschreibt. Am Ende hört das Stück auf wie es begonnen hat: auf einem Ton. Über dem vorletzten, rund zehn bis zwanzig Sekunden dauernden Takt steht „senza tempo“ (ohne Tempo). Der letzte Takt schließlich ist eine Generalpause: ein Nicht-Ton als Klangereignis, Zeit zum Nachsinnen, für das Öffnen der Ohren in neue faszinierende musikalische Räume hinein.

Peter Eötvös (*1944)

Sirens` Song für Orchester

Für sein Werk Sirens‘ Song hat der Komponist Peter Eötvös nicht nur die Geschichte Homers, sondern auch James Joyces Ulisses und Franz Kafka als Inspirationsquelle genommen. In dessen Kurzgeschichte „Das Schweigen der Sirenen“ dreht Kafka den Spieß rum. Bei Kafka bleiben die Sirenen stumm. Ein einsamer Odysseus, dem sie gleichgültig sind, segelt friedlich vorbei – seine eigenen Ohren verstopft, die „großen Augen“ in die Ferne starrend. Peter Eötvös hat sich an das Unmögliche gewagt, das eigentlich Unhörbare zu vertonen: „Seit Jahrtausenden sind Sirenen – Killervögel mit Frauenköpfen – die berühmtesten Sängerinnen der Mythologie. Meine Komposition Siren’s Song wurde von drei Autoren inspiriert. Nach Homer verführten die Sirenen die Seeleute mit ihrem betörenden Gesang und töteten sie dann. Odysseus stopft sich vorsichtig Wachs in die Ohren, so dass er sie zwar sehen, aber nicht hören kann. Kafka deutet an, dass die Sirenen Odysseus listig getäuscht haben, weil sie sich ohnehin weigerten, für ihn zu singen“, so Peter Eötvös. Der 1944 in Siebenbürgen geborene Eötvös gilt seit langem als eine der bedeutendsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Musikszene, sowohl als international anerkannter Dirigent als auch als Komponist erfolgreicher Opern, Orchesterwerke und Konzerte, die er für bekannte Künstler aus aller Welt geschrieben hat. Seine Musik steht häufig auf den Programmen von Orchestern, Ensembles für zeitgenössische Musik und Festivals auf der ganzen Welt, und als Komponist und Dirigent hat er in Städten auf der ganzen Welt Projekte geleitet, die sich auf sein Werk konzentrieren. Er wird regelmäßig als Gastdirigent von den wichtigsten Orchestern und Opernhäusern eingeladen, unterrichtete u.a. an den Musikhochschulen in Köln und Karlsruhe und gibt regelmäßig Meisterkurse und Seminare in aller Welt. 1991 gründete er sein „Internationales Eötvös-Institut“ und 2004 die „Peter Eötvös Contemporary Music Foundation“ in Budapest für junge Komponisten und Dirigenten.

Gustav Mahler (1860–1911)

Das Lied von der Erde

Das Thema des Todes zieht sich wie ein roter Faden durch Mahlers Musik: von den frühen, blutigen Liedern eines Wanderers und der ersten Symphonie, in denen der Tod ironisch behandelt wird, über die zweite Symphonie, in der der Tod das Vorspiel zur Auferstehung ist, bis hin zur fünften Symphonie in der Mitte seiner Karriere mit ihren schmetternden Trauermärschen und schließlich den drei letzten, vom Tod durchdrungenen Kompositionen: Das Lied von der Erde, die neunte Symphonie und die unvollendete zehnte Symphonie. Letztere gehen auf die Ereignisse des Jahres 1907 zurück, als Mahler kurz hintereinander erst den Tod seiner ältesten Tochter Anna Maria erlebte und kurz danach als Folge verschiedener Intrigen gegen ihn gezwungen war, sein Amt als Direktor der Wiener Hofoper niederzulegen. Zudem wurde bei ihm ein unheilbares Herzleiden diagnostiziert. Der lebenshungrige Mahler reagierte darauf nicht mit dem Gang ins Krankenhaus oder auf die Couch eines Analytikers, sondern mit der Übernahme des Chefdirigats der Metropolitan Opera und der New Yorker Philharmoniker. Seine Gefühle spiegeln sich in den alten chinesischen Gedichten wider, die in den deutschen Paraphrasen von Hans Bethge (veröffentlicht 1907 als „Die chinesische Flöte“), für Das Lied von der Erde ausgewählt wurden. Unmittelbar bevor er sich an die Arbeit an Das Lied von der Erde machte, schrieb Mahler den folgenden erschütternden Brief, wiederum an Bruno Walter, der uns einiges über seinen Gemütszustand verrät: „Wenn ich zu mir selbst zurückfinden soll, muss ich die Schrecken der Einsamkeit in Kauf nehmen. Ich spreche in Rätseln, denn Sie wissen nicht, was in mir vorging und vorgeht. Es ist sicher keine hypochondrische Angst vor dem Tod, wie Sie vielleicht vermuten. Ich habe schon lange gewusst, dass ich sterben muss… Ohne zu versuchen, etwas zu erklären oder zu beschreiben, wofür es wahrscheinlich keine Worte gibt, sage ich einfach, dass ich mit einem Schlag jede Ruhe und jeden Seelenfrieden verloren habe, die ich jemals erlangt habe. Ich stehe dem Nichts gegenüber und muss nun, am Ende meines Lebens, wieder lernen, zu gehen und zu stehen“. Mit diesen letzten Worten scheint er zu meinen, im Angesicht des Todes zu lernen, einen Sinn im Leben zu finden. Der Mahler-Experte Deryck Cooke betrachtete Das Lied von der Erde als „Symphonie im Mahlerschen Sinne… erster Satz: Konflikt; vier kürzere Sätze, die auf die zentrale Idee Bezug nehmen; komplexes Finale, das eine Auflösung bringt; das Ganze besteht aus symphonisch entwickelten Motiven, wenn auch nicht in traditionellen Formen“. Auf die kühle Analyse folgt die totale, durchaus nichtwissenschaftliche Kapitulation vor der schieren emotionalen Anziehungskraft dieser Musik. Cooke fügt hinzu: „Die letzte, entsetzliche Spannung in Mahlers Geist zwang ihm Musik von unbeschreiblicher Schönheit und Ergriffenheit auf… In Das Lied von der Erde wird das plötzliche bittere Bewusstsein der bevorstehenden Auslöschung mit einer hedonistischen Freude an der Schönheit der Natur und der Ekstase des Lebens konfrontiert und verschmolzen, die beide jetzt so kurz und prekär vorhanden sind… Es ist, als hätte der plötzliche Geschmack der Sterblichkeit alle Festigkeit aus der Welt herausgelöst und sie in dünnen Linien und klaren Aquarellfarben scharf gezeichnet zurückgelassen. Diese sind der Atmosphäre des Textes angemessen… Das Lied von der Erde hat eine neue, nackte Art von harmonischer Textur und Orchestrierung, die, obwohl sie manchmal in Mahlers früheren Werken angedeutet und teilweise in seinen beiden späteren Werken beibehalten wurde, wirklich vor allem zu diesem Werk gehört und in der Musik ihresgleichen sucht.“

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