Was verbindet Lou, eine 15-jährige Hochbegabte aus gutem Hause, Luca, einen 17-jährigen coolen Jungen, nach dem alle Mädchen verrückt sind, und No, eine 18-jährige Obdachlose, die durch alle Maschen des sozialen Netzes gerutscht ist, miteinander?  Auf den ersten Blick nicht viel, stammen sie doch aus völlig unterschiedlichen Verhältnissen. Bei genauerem Hinschauen aber eine ganze Menge. Denn die drei Protagonisten des preisgekrönten und in 15 Sprachen übersetzten Romans »No und ich«  sind  »Kinder des Chaos«, so beschreibt es ihre Schöpferin Delphine de Vigan. Eigentlich sind sie zerbrechlich und anlehnungsbedürftig, aber in der schwierigen Phase ihres Erwachsenwerdens ganz auf sich gestellt – egal ob sie nun aus einem privilegierten sozialen Umfeld stammen oder aus einem schwierigen.  Jetzt kommt »No und ich« in der Bühnenfassung von Juliane Kann auf die Bühne der BOXX. Die Premiere ist am 21. September um 20 Uhr in der BOXX. Regie führt Adewale Teodros Adebisi.

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Lou ist superschlau. Sie hat einen IQ von 160, ist aber nicht in der Lage, eine Schleife zu binden. Ihre Klassenkameraden halten sie für einen Freak. Der einzige, der sie wirklich versteht, ist ihr Klassenkamerad Luca, der,  seitdem seine Mutter zu ihrem neuen Freund gezogen ist, mit dem sich der Junge nur gezofft hat, allein wohnt. Auch Lou ist zu Hause ziemlich auf sich gestellt, denn seit dem Tod ihrer kleinen Schwester vor vier Jahren ist ihre Mutter ist nicht mehr ansprechbar. Eine lähmende Trauer hat sich schwer über die Familie gelegt.

Als Lou und Luca für ein Referat zum Thema Obdachlosigkeit recherchieren, lernen sie am Bahnhof die 18-jährige Obdachlose Nowlen, genannt No, kennen. Sie lebt seit 10 Monaten auf der Straße, nachdem sie aus dem Heim, in dem sie bis zum 18. Lebensjahr gewohnt hat, ausziehen musste. Ihre eigene Mutter hat sie von Geburt an abgelehnt. Lou möchte Nos Geschichte erzählen. Wie ist es, als Mädchen schutzlos auf der Straße zu leben, nicht zu wissen, wo man nachts schläft und wann man wieder etwas zu essen bekommt? Die beiden treffen sich regelmäßig und dann fasst Lou einen Entschluss: Sie wird Nowlen von der Straße holen, ihr ein Obdach geben – wozu lebt Luca allein in seiner elterlichen Wohnung – und ihr helfen, in ein normales Leben zu finden. Aber geht das so einfach?

Durch den offenherzig-ungeschönten und zugleich herzerfrischend-naiven Blick der heranwachsenden Lou, deren Engagement an die Fridays-for-Future- Aktivisten erinnert, gelingt eine gleichermaßen eindringliche, bisweilen sogar humorvolle Sicht auf dieses Thema.

Laborraum für Experiment gegen das Schicksal

Ausstatter Stefan Brandtmayr baut für die Bühne der BOXX ein »Haus im Haus«. Es steht einerseits symbolisch für einen Außenraum, der durch soziale Kälte gekennzeichnet ist, und andererseits für einen Innenraum, der Sicherheit und Geborgenheit vermittelt  ̶  zwei Welten,  die sich nicht berühren, aber dennoch zusammengehören. Die Bühnenoberfläche wird dominiert von grünen Fliesen, die einen anonymen, sterilen Ort assoziieren und zugleich an einen ganz intimen Platz wie ein häusliches Badezimmer erinnern. Das drehbare Tinyhouse schafft einen Laborraum für Lous »großangelegtes Experiment gegen das Schicksal«. Die Inszenierung wird atmosphärisch verdichtet durch eine Collage aus Sound und Video von Regisseur Adewale Teodros Adebisi, die einen suggestiven Sog entwickelt.

Rund 37 000 Jugendliche leben in Deutschland auf der Straße

Delphine de Vigan wollte über Jugendliche schreiben, die auf der Straße leben. Deren Zahl nimmt sowohl in Frankreich als auch in Deutschland mit jedem Jahr zu. Rund 37 000 Straßenjugendliche gibt es zurzeit in Deutschland. Eine genaue Zahl existiert nicht, weil die Betroffenen aus allen Sozialsystemen herausfallen.

Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe verfügen insgesamt über 860 000 Deutsche über keinen eigenen Wohnraum. Sie kommen zeitweise bei Bekannten oder Angehörigen unter, einige leben ganz auf der Straße. Aufgrund von Wohnungsnot, Mietpreisexplosion und zunehmender Armutsrisiken steigt die Zahl Wohnungsloser in Deutschland seit Jahren kontinuierlich an. Auch Familien sind immer stärker betroffen. Klar ist, dass Wohnungslosigkeit die Folge einer Vielzahl von Problemen darstellt, nicht nur individuelles Verschulden, sondern auch strukturelle und institutionelle Versäumnisse sind hier zu nennen.

Das Leben auf der Straße ist hart. Hunger, Kälte, mangelnde Hygiene und fehlende gesundheitliche Versorgung führen dazu, dass Obdachlose im Schnitt eine um 30 Jahre kürzere Lebenserwartung als der Bundesdurchschnitt haben. Außerdem erleben sie ständig soziale Ächtung und sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Vor allem weibliche Obdachlose versuchen ihre Lebensumstände möglichst lange zu verstecken, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen und kein Opfer sexueller Gewalt zu werden.

Soziale Verwahrlosung und Einsamkeit entwickeln sich bei Jüngeren zur Volkskrankheit

Daneben geht es Delphine de Vigan und auch Regisseur Adewale Teodros Adebisi um eine weitere Form von Verwahrlosung, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist – die Wohlstandsverwahrlosung. Auch Kinder aus wohlhabenden Verhältnissen können trotz des Besitzes aller äußerlichen Statussymbole innerlich sehr arm sein. Es fehlte ihnen an Zuwendung durch die Eltern, an Momenten, in denen ihnen einfach nur zugehört wird, an Interesse an ihrem Leben, Fühlen und Denken und an Zuneigung. Dabei geht es nicht um die Quantität der Zeit, die Eltern ihren Kindern schenken, sondern um die Qualität. Oft leben solche wohlstandsverwahrlosten Kinder in Familien, in denen es heftig brodelt oder in denen das große Schweigen herrscht. Oder sie haben Eltern, die aufgrund eigener psychischer Probleme nicht in der Lage sind, ihren Kindern Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Digitalisierung macht es möglich, überall und jederzeit mit allen in Kontakt zu sein, und doch leiden vor allem junge Erwachsene unter Einsamkeit. Laut einer Umfrage gaben 17 Prozent der 18-29-Jährigen an, sich ständig oder häufig einsam zu fühlen. In unserer fragmentierten Gesellschaft, in der jeder seinen Weg sucht und geht, greifen traditionelle Zusammengehörigkeitsmechanismen immer weniger. Oft sind Bekanntschaften nur oberflächlich. Und nur wenige haben Menschen, bei denen sie wirklich so sein können, wie sie sind.

Die Autorin Delphine de Vigan wurde 1966 bei Paris geboren, wo sie mit ihren zwei Kindern lebt.  Ihren internationalen Durchbruch erlangte sie 2007 mit ihrem vierten Roman ›No und ich‹, für den sie vielfach ausgezeichnet wurde. 2008 erschien der Roman auch in Deutschland und wurde hier ebenfalls zum Bestseller. Mittlerweile wurde ›No und ich‹ in 20 Sprachen übersetzt und 2010 verfilmt. Ab diesem Schuljahr ist der Roman Realschulprüfungsthema in Baden-Württemberg. 

Premiere am 21. September, 20 Uhr, BOXX, Theater Heilbronn
No und ich
Schauspiel nach dem Roman von Delphine de Vigan
Bühnenfassung von Juliane Kann

Regie/Video: Adewale Teodros Adebisi
Ausstattung: Stefan Brandtmayr
Dramaturgie: Sophie Püschel

Lou: Anja Bothe
Nowlen: Sarah Finkel
Luca: Sascha Kirschberger

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