Die letzten Monate haben uns vor Augen geführt, wie stark unser Leben und Wirtschaften auf Planung und der damit oft verbundenen Annahme von Vorhersehbarkeit basiert. Beides gibt uns – basierend auf scheinbarer Kontrolle – ein Gefühl der Sicherheit und ist daher eine wesentliche Grundlage, dass wir entscheidungs- und handlungsfähig sind. 

Gerade die Projektmanager unter uns – und ich bin eine davon – haben Planungsverfahren als DIE Grundlagen ihres Arbeitens kennengelernt. PSP-Elemente, Risikoverfahren, Projektvisionen sind Schwerpunkte aller mir bekannter Ausbildungen im Projektmanagement. Und nun sind diese hilfreichen Methoden in den letzten Monaten plötzlich mit Fragezeichen versehen, denn 

  • ohne eine solide Basis an Grundannahmen, auf denen ein Plan aufsetzt, steht er im luftleeren Raum,
  • Risikobewertungen werden weniger solide, wenn Wissen fehlt,
  • Projektvisionen orientieren sich an Unternehmensvisionen, die aktuell in Frage gestellt sind.

Verlässliche Planung ist folgerichtig also etwas, auf dass wir momentan weder privat noch in der Wirtschaft setzen können. Damit wankt auch unsere bisher gefühlte Sicherheit – mit all den Konsequenzen, die wir zurzeit täglich in den Medien präsentiert bekommen. 

Die Sehnsucht nach Normalität

Es ist daher nicht erstaunlich, dass sich viele von uns danach zurücksehnen, dass es bald wieder „ganz normal“ – und das heißt dann „wie früher“ – ist. Andere sehen ein neues „normal“ kommen. Uns allen ist gemeinsam, dass sich keiner von uns vorstellen kann, was eigentlich in ein bis zwei Jahren als „normal“ bezeichnet werden wird. Die Vision für unser Leben fehlt, und ohne eine solche fällt es uns Menschen schwer, Strategien, Pläne, Szenarien abzuleiten.

Irgendwie stecken wir im Dilemma fest, das Neue ist schwer vorstellbar, das Alte aber werden wir nicht zurückbekommen. Was also tun? In den letzten Wochen mehren sich die Stimmen, die von „loslassen“ reden. Aber was ist das eigentlich, dieses „Loslassen“? Wofür ist es hilfreich und warum?

Loslassen – was ist das?

Nun zu aller erst einmal ist loslassen ein Prozess und kein einmaliges Ereignis in dem Sinne „ich lass dann mal los“. Ein solches abruptes Loslassen ist natürlich möglich, führt aber sehr leicht zum Kollaps. Das können Sie erfahren, indem sie alle Muskeln anspannen (beginnend bei den Füßen bis hoch zum Gesicht), kurz alles festhalten und dann abrupt die Muskelspannung freigeben. Sie werden feststellen, je mehr und je länger Sie vorher festgehalten haben, desto anstrengender wurde es und desto heftiger fällt auch der Kollaps beim Loslassen aus. Ein passender und spürbarer Vergleich zum mentalen Loslassen. Wesentlich entspannter ist es, wenn sie nicht abrupt loslassen, sondern nach und nach (nicht in der Reihenfolge des Spannungsaufbaus, sondern ganz allmählich die gesamte Muskulatur gleichzeitig).

Angemessenes Loslassen bedeutet also, sich nach und nach von Vorstellungen und Handlungsmustern zu verabschieden, die uns bisher begleitet haben (im folgenden Text werde ich der Einfachheit halber den Begriff Gewohnheiten nutzen). Solche Gewohnheiten sind in einer Zeit entstanden, in der sie hilfreich und sogar nützlich für unser Leben waren. Aber die Zeiten ändern sich, und so sind sie das inzwischen eben nicht mehr. Sie sind nicht mehr zeitgemäß, oft sogar hinderlich. Und doch halten wir an ihnen fest, weil sie uns so lange durchs Leben geholfen haben und oft auch, weil sie einfach unbewusst, ja quasi automatisiert ablaufen. Das hat einen Preis, der mit der Zeit ansteigt, denn Festhalten an etwas, das immer weniger angemessen ist, kostet immer mehr Energie. So geht es uns aktuell auch mit der Idee des Planens oder der Idee, dass alles wieder so wird wie früher.

Wie aber geht der Prozess des Loslassens konkret?

Der Prozess des Loslassens

Es gilt zunächst einmal zu erkennen, was wir eigentlich loslassen sollten, wie z.B. scheinbar nicht hinterfragbare Grundannahmen unseres Wirtschaftens, unsere bisherige Lebensart, veraltete individuelle oder kulturelle Verhaltensmuster. Da all diese Gewohnheiten selbstverständlich oder unbewusst sind, ist dies keine einfache Aufgabe. Aber das Erkennen ist der erste Schritt und öffnet bereits die Augen für neue Wahrnehmungen. Nur im Wissen, was (m)eine Gewohnheit ist, kann ich den Unterschied zu anderen sehen und so auch erkennen, dass es viele und sehr verschiedene Gewohnheiten gibt. Meine ist eben eine von vielen, und sie ist anders als andere.

Diese Unterschiedsbildung führt dann leider und allzu oft zu einem bewertenden Vergleich und damit zu einer Selbst- oder Fremdabwertung. „Wie konnte ich nur so blöd sein?“, „Meine Gewohnheit ist die einzig richtige…“ – wer kennt solche Gedanken nicht? Solche Gedanken aber blockieren den Prozess des Loslassens, denn wir beschäftigen uns mit der Vergangenheit, und zwar bewertend. Bewertung und insbesondere Abwertung führen zu den uns sicher ebenfalls allen bekannten Schleifen im Gehirn und verhindern die achtsame Wahrnehmung dessen, was gerade passiert oder da ist. Diese Wahrnehmung aber ist wichtig, um neue Möglichkeiten zu erkennen und vielleicht sogar zu spüren.

Der zweite Schritt im Prozess des Loslassens ist ein Anerkennen der Gewohnheit als etwas, das für mich oder die Kultur, in der ich lebe, passend und hilfreich war. Man spricht in diesem Zusammenhang auch oft von „Zulassen steht vor Loslassen“. Nur passt sie eben nicht mehr in die jetzige Zeit. Sie festzuhalten verbraucht einfach zu viel Energie.

Und nun folgt im Prozess des Loslassens die eigenverantwortliche Entscheidung, dass ich etwas ändern möchte. Nur weiß ich eben noch nicht, wohin die Veränderung führt. Zunächst ist es also eine Entscheidung, dass ich die bisherige Gewohnheit etwas weniger oft tun möchte. Dadurch entsteht ein Leerraum, in dem ich etwas Neues ausprobieren kann. In Leerräumen entsteht Kreativität, und es ist Platz vorhanden, um Neues auszuprobieren.

Manches wird sich bewähren, anderes nicht, und so entstehen nach und nach neue Gewohnheiten. Das Alte wird weniger und doch wird es immer wieder aufflackern, eben weil es so gewohnt und auch hilfreich war. Vielleicht wird es auch immer ein Bestandteil in mir bleiben. Gleichzeitig können sich neue Gewohnheiten festigen, nach uns nach ins Unbewusste vordringen und so das zukünftige Handeln und meine Haltung mitbestimmen. Loslassen geht also quasi von selbst einher mit der Entstehung von Neuem.

Und was hat das mit Planen zu tun?

Hier zeigen sich nun auch die Gemeinsamkeiten mit dem Planen. Etwas Neues soll entstehen, dafür gibt es einen Prozess und schrittweise nähert man sich dem Neuen an. Der Unterschied liegt im Ziel, das beim Loslassen weniger klar definiert ist und erst im Ausprobieren und Reflektieren des Ausprobierten entsteht, ein bisschen erinnert das an agiles Vorgehen – aber eben nur ein bisschen. 

Und kaum sind wir scheinbar mit dem Loslassen fertig, steht die nächste Gewohnheit als Kandidat an. Das Ganze nennt sich dann Entwicklung. Genau wie beim Planen ist nach dem Planen vor dem Planen. Fertig wird man nie, denn Stillstand gibt es im Lebendigen nicht.

Tabus

Besonders hartnäckige Gewohnheiten sind Tabus. Meist sind sie kulturell bedingt. Sie in Frage zu stellen oder gar loszulassen, bringt scheinbar ein ganzes System ins Wanken. Oft sind sie so selbstverständlich, dass niemand auf die Idee kommt, sie in Frage zu stellen. So werden sie durchaus zu Axiomen und verhindern grundlegende Veränderung.

Aber auch für Tabus kommt der Punkt, an dem es immer mehr Anstrengung braucht, sie aufrechtzuerhalten – bis hin zur Selbstaufgabe. Manchmal braucht es Impulse jenseits dessen, was wir beeinflussen können, um sie loszulassen. Corona zeigt uns einige solcher Tabus auf.

Fazit

Was fehlt noch? Am Anfang dieses Artikels steht, dass gefühlte Sicherheit eine wesentliche Voraussetzung ist, um zu entscheiden und zu handeln. Loslassen aber erfordert Entscheidung und Handeln, ohne dass es zunächst einen konkreten Zukunftsplan gibt, der ein Sicherheitsgefühl vermittelt. Beim Loslassen lassen wir uns auf Entwicklung ohne die Gewissheit ein, was wir im Ergebnis erwarten können. Die dafür erforderliche Sicherheit kommt von innen und wird auch als innere Stabilität bezeichnet¹. Innere Stabilität entsteht, wenn man sich seiner selbst bewusst ist und sich so akzeptiert, wie man eben ist. Und damit schließt sich der Kreis, denn der Prozess des Loslassens bewirkt gerade in seinen ersten Schritten genau das. Einmal angefangen generiert er die notwendige Sicherheit. Am Anfang steht der Mut, sich auf Entwicklung einzulassen und für den Verstand die Erkenntnis, dass Veränderung und damit Entwicklung einfach Bestandteile des Lebens sind.

Das Schreiben dieses Artikels fiel mir schwerer als so manch andere Artikel, die einfach aus der Feder flossen. Als Systemikerin bin ich davon überzeugt, dass dies eng mit dem Thema zusammenhängt. Loslassen ist nun einmal kein einfacher Prozess, egal wie fluffig man die Überschrift macht. Unser Gehirn liebt es bequem, weil es so wenig Energie verbraucht. Loslassen und sich neu verschalten aber braucht Energie, ist gerade am Anfang unbequem und in den meisten Fällen ein langwieriger Prozess. Am Ende steht jedoch eine neue Stabilität, ein weiterer Entwicklungsschritt ist gegangen. Dafür – und auch wegen der damit verbundenen Glückshormone – lohnt es sich.

Planung ist aktuell schwierig, also versuchen wir es doch einfach mal mit Loslassen. 

Hinweise:

[1] Wie lässt sich innere Stabilität entwickeln? Ein Beitrag zu Erwartungsmanagement: https://t2informatik.de/blog/prozesse-methoden/das-erwartungsmanagement/

Gemeinsam mit Matthias Winnig veranstaltet Astrid Kuhlmey am 31. Oktober 2020 einen Workshop zum Thema Mein Umgang mit Veränderung:  https://www.sicher-durch-veraenderung.de/sites/default/files/download/Flyer_Workshop_Okt_2020_Webansicht.pdf

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Blog von t2informatik veröffentlicht: https://t2informatik.de/blog/projektmanagement/loslassen-ist-das-neue-planen/

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