Mit der seit mehreren Monaten erwarteten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in der Rechtsache mit dem Aktenzeichen C-693/18 droht die Stilllegung von mehr als 10 Millionen Dieselfahrzeugen allein in Deutschland. Der Bundesgerichtshof (BGH) will die Situation für Fahrzeughalter noch vor der Entscheidung des EuGH offenbar verschärfen: Betroffene Fahrzeughalter hätten dann im Fall der Stilllegung ihrer Fahrzeuge keine rechtliche Handhabe mehr, wenn seit dem Fahrzeugkauf schon mehr als zwei Jahre vergangen sind. Die Fahrzeuge dürften also nicht mehr gefahren werden, gleichzeitig hätten die Eigentümer nach Ablauf der 2-jährigen Gewährleistungsfrist keinerlei Möglichkeit mehr, hierfür eine Entschädigung zu erhalten. Eine zuletzt für den 27.10.2020 angekündigte Entscheidung des BGH wurde dadurch verhindert, dass der Kläger die Klage kurz vor dem Termin zurücknahm. Nun hat der BGH seine Entscheidung in einem anderen Verfahren gegen die Daimler AG (Az. VI ZR 314/20) für den 14.12.2020 angekündigt.

Die Ermittlungen im Umfeld des Abgasskandals um Volkswagen haben es ans Licht gebracht: In fast allen der ca. 18 Millionen in Deutschland zugelassenen Diesel-Fahrzeuge sind Abschalteinrichtungen verbaut. Diese Abschalteinrichtungen bewirken, dass die Fahrzeuge die gesetzlichen Grenzwerte der jeweiligen Emissionsgruppe allenfalls auf dem Prüfstand, nicht aber im realen Fahrzeugbetrieb einhalten. Tatsächlich werden die gesetzlichen Grenzwerte seit Jahren bei vielen Fahrzeugen sogar um ein Vielfaches überschritten, mit den bekannten Folgen für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen. Es verwundert deshalb nicht, dass der Einsatz derartiger Abschalteinrichtungen durch Verordnung der EU vom Juni 2007 (VO (EG) 715/2007) verboten ist.

Viel verwunderlicher ist, dass dieses Verbot nicht durchgesetzt wurde. Neufahrzeuge hätten mit dieser Abschalteinrichtung gar nicht erst zugelassen werden dürfen. Jedoch war der Einbau dem Kraftfahrtbundesamt (KBA), der in Deutschland für die Zulassung von Kraftfahrzeugen zuständigen Behörde, nach eigenem Bekunden lange Zeit nicht bekannt. Nach Bekanntwerden hätte das KBA für all diese Fahrzeuge aber bereits im Jahr 2015 einen verbindlichen Rückruf anordnen und − falls die Abschalteinrichtungen nicht beseitigt werden können − die Fahrzeuge aus dem Verkehr ziehen müssen.

Eine Konsequenz, die für das "Autoland Deutschland" mit der Automobilindustrie als zentralem Wirtschaftsmotor schlicht unvorstellbar war und ist. Es musste deshalb schnell eine andere Lösung ersonnen werden: Man gab den Abschalteinrichtungen den Namen "Thermofenster" und damit den Anschein der Rechtmäßigkeit. Dieser Begriff umschreibt letztlich nur den Umstand, dass die Abgasreinigung innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs nur in reduzierter Form durchgeführt wird. Der Begriff "Fenster" täuscht jedoch: So wird etwa in einem vom Landgericht München I mit Urteil vom 25.08.2020 unter dem Aktenzeichen 3 O 4218/20 entschiedenen Fall die Abgasreinigung standardmäßig bereits bei Temperaturen von weniger als 15 Grad Celsius zurückgefahren. Da jedoch die Jahresdurchschnittstemperatur in München bei 9 Grad Celsius, in Stuttgart bei 10 Grad Celsius und in anderen europäischen Städten wie z.B. Helsinki sogar nur bei 4,8 Grad Celsius liege, sei die reduzierte Abgasreinigung keineswegs eine Ausnahme sondern nahezu der Dauerbetrieb, erklärte das Gericht.

Das KBA, dem die Hersteller die Abschalteinrichtungen lange Jahre verschwiegen hatten, reagierte jedoch nicht mit Rückruf oder Stilllegung. Den Grund bringt das LG Offenburg in seinem Urteil vom 23.06.2020 (Az. 3 O 38/18) offen zur Sprache: "Dafür kann es vielerlei Gründe geben – etwa politischen Einfluss.". Vielmehr machte die Behörde jetzt mit den Herstellern gemeinsame Sache: Mit Volkswagen wurde im Rahmen des Software-Updates für den Motor EA189 sogar intern abgestimmt, die eine verbotene Abschalteinrichtung durch eine andere zu ersetzen. Man konnte und wollte Volkswagen nicht verbieten, was man bei allen anderen Herstellern durchgehen ließ.

Der amtierende Vorstandsvorsitzende des Volkswagen Konzerns, Herbert Diess, hat diesen Widerspruch im Rahmen seines Auftritts am 18.06.2019 bei Markus Lanz unbedacht mit seinem Hinweis auf den Punkt gebracht: Der Stickoxidausstoß bei der ursprünglich im Motor EA189 verbauten Abschalteinrichtung sei vor der Nachrüstung im Realbetrieb teils sogar geringer gewesen als der Stickoxidausstoß von Fahrzeugen anderer Hersteller [, bei denen die Abgasreinigung in dem Thermofenster zurückgefahren und deshalb auch ohne Update von den Behörden bereitwillig toleriert werde (Anm. d. Verf. )]. In derselben Sendung erklärte Diess außerdem, dass die von vielen Seiten anstelle des Software-Updates geforderte Hardware-Nachrüstung bei den betroffenen Fahrzeugen schlicht nicht möglich sei. Im Ergebnis bedeutet das nichts anderes, als dass eine Herstellung rechtmäßiger Zustände bei den im Verkehr befindlichen Fahrzeugen unmöglich ist. Ohne Verbesserungsmöglichkeit bleibt dann aber nur deren Stilllegung.

Diese von der Bundesregierung gefürchtete Konsequenz droht nun mit der seit mehreren Monaten erwarteten Entscheidung des EuGH. In dieser Sache geht es um zwei Fragen: Was sind Abschalteinrichtungen? Und: Wann sind diese verboten? Der EuGH wird also nochmal klarstellen, was eigentlich keiner Klarstellung mehr bedarf: Die sogenannten "Thermofenster" sind verbotene Abschalteinrichtungen.

In Ihrem Schlussantrag verlor die Generalanwältin Sharpston beim EuGH am 30. April 2020 deutliche Worte, indem Sie betonte, die Rechtsvorschriften sollten dazu dienen, die Schadstoffemissionen im Alltag tatsächlich zu verringern. Es reiche nicht aus, Technologien Tests zu unterziehen, ob diese grundsätzlich in der Lage wären, die Grenzwerte einzuhalten. Eine solche Auslegung stünde ganz offensichtlich nicht im Einklang mit der Logik der Verordnung.

Das sehen auch jetzt schon die meisten Gerichte in Deutschland so. Eigenartig ist nur, dass es dennoch Juristen mit der Befähigung zum Richteramt gibt, die dies noch anders sehen. Rechtsanwalt Sven Galla von der RATIS Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Passau wundert sich darüber: "Jeder Jurastudent lernt schon ganz am Anfang seiner Ausbildung die vier grundlegenden Methoden zur Interpretation eines Gesetzestextes kennen. Würde ein Erstsemester unter Anwendung dieser Auslegungsmethoden zu dem Ergebnis kommen, die Verwendung von Thermofenstern sei zulässig, würde ihm diese Auffassung als nicht vertretbar angekreidet."

Entsprechend klare Worte verliert neben dem Landgericht München (s.o.) auch das Landgericht Hagen in einem aktuellen Urteil vom 11.8.2020 unter dem Aktenzeichen 3 O 134/19: Das in dem Motor unstreitig zur Anwendung kommende Thermofenster sei nach der einschlägigen europäischen Verordnung, entgegen der Darstellungen des KBA und der Fahrzeughersteller "gerade kein rechtlicher Grenzfall, sondern offensichtlich illegal". Es konnte also kein vernünftig denkender Mensch, aber eben auch kein Jurist überhaupt dem Gedanken verfallen, dass der Einbau eines Thermofensters zulässig sein könnte. Positiv formuliert: Diejenigen, die eine solche verbotene Abschalteinrichtung in ihre Fahrzeuge verbaut haben, haben dies gewusst und gewollt. Im Zweifel, um damit auf Kosten der Umwelt und der Gesundheit der Menschen Kostenvorteile zu generieren.

Dies stellt ohne Weiteres ein vorsätzliches sittenwidriges Verhalten dar, das zum Schadensersatz verpflichtet. Das gilt insbesondere wenn infolge der Abschalteinrichtung die Stilllegung des Fahrzeugs erfolgt. Behörden und Gerichte, die ein solches Verhalten der Hersteller stützen und nicht ahnden, handeln gleichermaßen sittenwidrig und unterwandern den Rechtsstaat.

Für die Automobilindustrie bedeutet dies Haftungsansprüche in schier unvorstellbarem Ausmaß. Deshalb schwingt sich auch jetzt wieder der deutsche Staat – nunmehr mit seiner rechtsprechenden Gewalt − auf dem Rücken seiner Bürger zum Retter seines vermeintlichen Wirtschaftsmotors auf. Schon jetzt urteilen Oberlandesgerichte in Deutschland, dass die Automobilhersteller beim Einbau der Abschalteinrichtungen keinen Schädigungsvorsatz gehabt hätten. Sie hätten das offensichtliche Verbot also nicht bewusst ignoriert. Nunmehr wird erwartet, dass auch der Bundesgerichtshof (BGH) am 14.12.2020 diese Haltung stützen wird.

Wer das nicht glauben mag, muss sich nur das positive Zeugnis durchlesen, das der BGH dem Volkswagen Konzern in seiner Entscheidung vom 30.07.2020 (Az. VI ZR 5/20 dort Rz. 37) ausstellt. Darin bescheinigt der BGH dem Volkswagen Konzern, in Zusammenarbeit mit dem KBA erfolgreich Abhilfe in Form des (neuerlich mit einer verbotenen Abschalteinrichtung versehenen) Software-Updates betrieben zu haben. Auch hier muss man sich fragen, wie Juristen mit der Befähigung zum Richteramt zu solch widersprüchlichen Befunden gelangen können. Erst recht, wenn es sich um das höchste Zivilgericht in Deutschland handelt und bis heute weiterhin Fahrzeuge mit verbotenen Abschalteinrichtungen vom Band rollen.

Hatte man noch gehofft, der BGH würde dem sittenwidrigen Verhalten des Volkswagen Konzerns mit seiner grundlegenden Entscheidung vom 31.05.2020 die rechtsstaatliche Quittung erteilten, wurde diese Erwartung spätestens durch die anschließenden Entscheidungen des Gerichts vom 30.07.2020 zunichte gemacht. Mit diesen Entscheidungen hat der BGH letztlich dem Volkswagen Konzern die Vorteile aus seinem sittenwidrigen Verhalten erhalten und damit den zwischenzeitlichen Tiefpunkt beim systematischen Abbau des Rechtsstaates im Rahmen des VW-Abgasskandals erreicht.

Der erhoffte Aufschrei derjenigen, die das verstanden haben, ist bis dato ausgeblieben. Bislang haben leider nur vereinzelt Gerichte dem BGH die Gefolgschaft verweigert – ganz aktuell allerdings in unverblümter Offenheit das LG Ingolstadt in seinem Urteil vom 10.11.2020 (Az. 81 O 571/19). Auch in der Öffentlichkeit regte sich kein Widerstand als der BGH in seiner Entscheidung von Ende Juli die pauschale Auffassung vertrat, dass VW-Käufer, die ihr Fahrzeug nach dem 22.09.2015 erwarben, keine Schadenersatzansprüche haben sollen. In der Folge berufen sich nun viele Gerichte auf diese Entscheidung und zahlreiche Klagen werden nicht mehr in ihren Details betrachtet.

In der nunmehr anstehenden Entscheidung des BGH vom 14.12.2020 wird deshalb auch nicht zur Sprache kommen, dass damit betroffenen Fahrzeughaltern selbst dann kein Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller zusteht, wenn ihre Fahrzeuge später als 2 Jahre nach dem Kauf wegen der verbotenen Abschalteinrichtung stillgelegt werden. Diese Konsequenz wird erst dann zu Tage treten, wenn Deutschland auf Grundlage einer Entscheidung des EuGH dazu angehalten wird, die mit einer verbotenen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeuge aus dem Verkehr zu ziehen.

Es bleibt zu hoffen, dass es hierzu nicht kommen mag, weil sich immer mehr sach- und rechtskundige Stimmen gegen die offenbar wirtschaftspolitische Beeinflussung der staatlichen Institutionen erheben. Rechtsanwalt Galla wünscht sich insbesondere, dass diejenigen, die zukünftig über eine Haftung der Automobilhersteller wegen der Verwendung verbotener Abschalteinrichtungen zu entscheiden haben, dies (wieder) auf Basis ihrer rechtlichen Ausbildung tun und jeden Einzelfall mit all seinen individuellen Details bewerten: "Die Öffentlichkeit tut gut daran, hier den Behörden und Gerichten bei Ihren Entscheidungen auf die Finger zu schauen, statt irgendwelchen abstrusen Verschwörungstheorien nachzuspüren."

Über die RATIS Rechtsanwaltsgesellschaft mbH

Die RATIS Rechtsanwaltsgesellschaft mbH vertritt im Zusammenhang mit dem Diesel-Abgasskandal mehrere hundert Mandanten. Für Verbraucher ist es wichtig zu wissen, dass es abhängig von der Entscheidung am 14.12.2020 möglicherweise für zahlreiche weitere Dieselfahrer empfehlenswert ist, selbst eine Klage anzustreben. Es ist anzuraten sich in diesem Fall mit seinem Anwalt zu besprechen. Viele auf das Thema spezialisierte Rechtsanwälte beraten Interessenten kostenlos und unverbindlich. Das Team der RATIS berät betroffene Fahrzeughalter deutschlandweit gerne unter 0851 986130-26 oder per E-Mail an info@ratis.de.

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