Frau Dr. Breyhan, während viele südamerikanische und europäische Länder von der Corona-Pandemie stark betroffen sind und viele Tote zu beklagen haben, scheint die Situation auf dem afrikanischen Kontinent nicht so dramatisch zu sein. Täuscht der Eindruck?
Dr. Breyhan: Aus Sorge, die oft schlecht ausgestatteten Gesundheitssysteme könnten unter Infektionswellen, wie sie in Europa beobachtet wurden, zusammenbrechen, reagierten viele afrikanische Länder auf das Auftauchen des Erregers auf dem Kontinent im März 2020 mit frühzeitigen Lockdown-Maßnahmen. Diese umfassten neben Schulschließungen zeitlich begrenzte Ausgangssperren, Reisebeschränkungen oder -verbote, sowie die Einstellung des öffentlichen Transportwesens. Heute, ein Jahr später, sehen wir, dass Afrika den offiziellen Zahlen zufolge, auch im Vergleich zu anderen Kontinenten, weniger schwer von der Pandemie betroffen ist, als dies zunächst befürchtet wurde. Die Ursachen dafür sind unklar. Die junge Bevölkerungsstruktur, eine mögliche Hintergrundimmunität durch andere Coronaviren oder Erfahrungen im Umgang mit Epidemien wie Ebola werden unter anderem als Gründe angeführt. Es gibt aber auch Studien, die in dicht besiedelten Gebieten wie Townships und Slums in Südafrika, Kenia oder Nigeria eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung nachweisen. Es kann daher sein, dass schwache Test- und Meldesysteme das Ausmaß der Pandemie schlicht nicht richtig erfassen, so dass die direkten Gesundheitsfolgen durch das Infektionsgeschehen in Afrika weiterhin nicht eindeutig sind.
Aber es gibt auch indirekte Auswirkungen der Pandemie, die sich schon jetzt zeigen?
Dr. Breyhan: Es zeichnet sich ab, dass die Corona-Pandemie für die Gesundheit der Menschen neben direkten Folgen einer Infektion auch indirekt Folgen hat. Diese entstehen einerseits dadurch, dass medizinische Leistungen eingeschränkt wurden und dass Gesundheitseinrichtungen für die Menschen aufgrund der von den Regierungen verhängten Maßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung nicht mehr erreichbar waren. Andererseits meiden Menschen aus Furcht vor Ansteckung die Krankenhäuser und Gesundheitsposten. Nach Erhebungen der WHO kam es weltweit zu einer Reduzierung von Gesundheitsleistungen in unterschiedlichem Ausmaß: Operationen wurden abgesagt, Routineuntersuchungen verschoben und Vorsorgemaßnahmen ausgesetzt. Das Einstellen des öffentlichen Verkehrs machte es für Patienten und Personal oft gleichermaßen schwer, die Einrichtungen zu erreichen. Dort fehlte es dann häufig an Medikamenten und Schutzausrüstungen. Vielfach wird in Zeiten eines starken Infektionsgeschehens Personal von seinen üblichen Aufgaben abgezogen und zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt. Die Folge ist das Aussetzen vermeintlich weniger drängender, meist präventiver Leistungen, wie beispielsweise Impfmaßnahmen gegen die üblichen Infektionskrankheiten bei Kindern oder die Betreuung chronisch Kranker. Auch Beratungsleistungen zur Familienplanung und zur Vor- und Nachsorge von Schwangeren und neugeborenen Kindern wurden vielfach unterbrochen.
Was bedeutet das alles für die Kinder in vielen afrikanischen Ländern?
Dr. Breyhan: Dies hat für die Kinder erhebliche gesundheitliche Konsequenzen. Ausgesetzte Impfkampagnen gegen die Infektionskrankheiten lassen die Mädchen und Jungen ungeschützt und können mittel- bis langfristig zu vermehrten schweren Erkrankungen und Todesfällen führen, wenn es nicht gelingt, durch spezielle Maßnahmen diese Kinder doch noch mit Impfungen zu versorgen. In Uganda etwa verpassten durch den Lockdown mehr als 26.000 Kinder ihre regulären Impfungen gegen Diphterie, Keuchhusten und Tetanus. Im Vergleich zu den Vorjahren stiegen die Todesfälle durch Malaria, die ja insbesondere Kinder unter fünf Jahren betreffen, deutlich an. Auch die Müttersterblichkeit nahm in Folge fehlender medizinischer Betreuung der Schwangeren und Gebärenden signifikant zu. Einschränkungen der Programme zur Familienplanung führen vermehrt zu ungewollten Schwangerschaften, besonders bei Teenagern, die wiederum eine erhöhte Sterblichkeit von Müttern und Neugeborenen bedingen können. Dies alles gibt einen Eindruck davon, wie gravierend die gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche sind.
Was sind weitere Probleme und Gefahren, denen Kinder jetzt ausgesetzt sind?
Dr. Breyhan: In vielen einkommensschwachen Ländern sind große Teile des Arbeitsmarktes im informellen Sektor verortet, viele Menschen leben als Tagelöhner ohne große Rücklagen oder soziale Sicherungssysteme. Ausgangsbeschränkungen und Einschränkungen im öffentlichen Transportsystem lassen die Menschen von einem Tag auf den nächsten ohne Einkommen dastehen. Viele Familien rutschen dadurch weiter in die Armut, viele Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte gehen verloren. Dies führt in vielen Familien zu einer deutlichen Verschlechterung der Ernährungssituation. Nahrungsmittel sind nicht mehr erschwinglich, die Mangelernährung bei Kindern nimmt zu. Sie wird verstärkt durch die Schließung von Schulen, in denen die Kinder häufig regelmäßige Mahlzeiten erhielten, auf die die Familien dringend angewiesen waren. Kosten für Medikamente und medizinische Behandlungen können nicht mehr aufgebracht werden. Nach Angaben des Welternährungsprogrammes werden allein durch die Pandemie 270 Millionen Menschen von akutem Hunger bedroht. Dies hat dramatische Konsequenzen für Kinder, wenn man bedenkt, dass 45 Prozent aller Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren mit Mangelernährung zusammenhängen. Dies alles bedingt neben einer vermehrten Anfälligkeit für Krankheiten eine erhebliche psychische Belastung, unter der auch die Kinder heftig leiden. Wir beobachten eine Zunahme häuslicher Gewalt und einen deutlichen Anstieg psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen, auch bei Kindern.
Im Kampf gegen das Coronavirus hilft vor allem Impfen. Was bedeutet das für afrikanische Länder?
Dr. Breyhan: Die Pandemie bedeutet eine weltweite Krise, die nur zu besiegen ist, indem sie überall bekämpft und eingedämmt wird. Wenn die Übertragungen nicht überall minimiert werden, werden auch in die Länder mit einer durchgeimpften Bevölkerung immer wieder Infektionen eingetragen. Es werden sich resistente Mutanten bilden, wie wir es jetzt schon in Ansätzen erleben. Es ist daher unerlässlich, alle Länder gleichermaßen mit Impfstoff zu versorgen und solidarisch zu handeln. Es reicht allerdings nicht, nur die notwendigen Impfdosen zur Verfügung zu stellen. Eine Impfkampagne gegen Covid-19 wird weiteren Stress für schwache Gesundheitssysteme bedeuten. Gesundheitspersonal und weitere finanzielle Ressourcen werden für die aufwendigen Kampagnen benötigt. Durch sorgfältige Planung muss vermieden werden, dass Gesundheitsleistungen reduziert werden, weil die Ressourcen für die Impfkampagnen benötigt werden. Auch dies hätte wiederum für die Gesundheit von Kindern gefährliche Folgen.
Infokasten: 2,2 Millionen Euro speziell zur Bewältigung der Corona-Krise
Die Hilfe der Sternsinger in der Corona-Pandemie für die Kinder in der Einen Welt kommt an. Das Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘ hat seit Beginn der Pandemie insgesamt 43 Projekte weltweit speziell zur Bewältigung der Corona-Krise im Umfang von rund 2,2 Millionen Euro bewilligt. Denn die Folgen der weltweiten Gesundheitskrise sind für Mädchen und Jungen in Entwicklungsländern besonders verheerend. Die Fördergelder versetzen die Partner des Kindermissionswerks in die Lage, den Kindern und deren Familien vor Ort effektiv zu helfen. Ziel der geförderten Maßnahmen ist es, den betroffenen Mädchen und Jungen in dieser schwierigen Zeit ein Stück Normalität zu ermöglichen. Der Kinderschutz steht dabei an oberster Stelle. Zu den Hilfsmaßnahmen zählen beispielsweise die psychosoziale Unterstützung von Familien, Nahrungsmittelhilfen, Aufklärungsarbeit über das Virus, Infektionsschutz, sowie digitale Lernangebote für Mädchen und Jungen. Neben den spezifischen Corona-Nothilfen wurden die Förderschwerpunkte für viele der rund 1.600 Projekte gemeinsam mit den Partnern an die Corona-Situation angepasst.
Mehr als 1.600 Projekte für Not leidende Kinder weltweit werden jährlich vom Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘ unterstützt. Einnahmen in Höhe von insgesamt rund 79 Millionen Euro standen dem Hilfswerk der Sternsinger 2019 für seine Arbeit zur Verfügung. Gefördert wurden Projekte in 108 Ländern. Neben der Förderung der Kinder-Hilfsprojekte zählen der Einsatz für die Rechte von Kindern weltweit sowie die Bildungsarbeit zu den Aufgaben.
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