Der Wiener Eignungstest für das Medizinstudium offenbarte unfreiwillig kognitive Unterschiede bei männlichen und weiblichen Millennials – mit entsprechender medialer Aufregung. Seit 2006 gibt es an Österreichs medizinischen Universitäten Aufnahmeverfahren. Nur für jeden achten Millenial, der studieren möchte, gibt es auch einen Studienplatz. Von 2006 bis 2012 fragte der Test medizin-naturwissenschaftliches Grundverständnis, räumliches Vorstellungsvermögen, Umgang mit Zahlen et cetra ab. Was man halt so braucht für das Medizinstudium. Niemand dachte besonders darüber nach. Das Problem: An der Medizin-Uni Wien waren in diesem Jahren zwar 55 bis 60 Prozent der Bewerber Frauen – unter den Zugelassenen waren sie jedoch nur noch zu 43 bis 48 Prozent vertreten. 2006 waren es sogar nur 41,5 Prozent. Das irritierte. Bis es im Jahr 2012 zu einer viel diskutierten Maßnahme kam: Die Universität versuchte gegenzulenken, indem sie einen Frauenbonus einführte. So wurden Frauen bevorzugt, auch wenn sie im Test schlechter abgeschnitten hatte. Weibliche Bewerberinnen kamen mit geringerer Punktezahl in der Rangliste weiter nach vorn. Die offizielle Sprachregelung dafür lautete gendergerechte Auswertung. Aber insgeheim ging von dieser Maßnahme eine ungewollte Botschaft aus: Frauen sind „dümmer“ als Männer. Das ist mit Sicherheit falsch! Mit Schwarz-Weiß-Denken kommt man hier nicht weiter. (.….)

Nach öffentlichem Aufschrei wird seit dem Jahr 2013 ein neuer Test angewandt. Dieser soll Frauen nun gezielt fördern. Der Test überprüft das schulische Vorwissen aus Biologie, Chemie, Physik und Mathematik, dann aber auch verbale Fähigkeiten (Lesekompetenz, Wortflüssigkeit, verbales Gedächtnis und Textverständnis), kognitive Fertigkeiten (Zahlenfolge, Zahlengedächtnis, Figuren zusammensetzen, Implikationen erkennen) und emotionale Kompetenz. Eine Neuerung in diesem Test ist das „Soziales Entscheiden“ und der Bereich „Emotionen erkennen“. Seither ist der Gendergap deutlich zurückgegangen. Dem ursprünglichen, mathematischen Test sind also so lange sprachliche, soziale und emotionale Subtests hinzugefügt worden, bis der Leistungsunterschied halbwegs ausgeglichen wurde. Damit wurde ungewollt offenbar, dass männliche und weibliche Millennials bei gleicher Motivation in verschiedenen Testabschnitten nachweislich eine unterschiedliche Leistung erbringen. Und es wurde dokumentiert, dass sich kognitive Begabungen bei Männern und Frauen unterscheiden.

Das Handbuch Intelligenz des Psychologen Detlef H. Rost von der Universität Marburg ist das deutsche Standardwerk zum Thema kognitive Fähigkeiten. Rost hat dafür über tausend Studien zur Intelligenzforschung durchgearbeitet. Im Gespräch mit dem Spiegel räumte er 2013 mit einigen Mythen rund um die Intelligenz auf. Ein Mythos, über den die Verantwortlichen für den Wiener Eignungstest für das Medizinstudium gestolpert sein könnten, ist der, dass Männer und Frauen genau das Gleiche können. Gegenüber dem Spiegel sagte Rost: „Feministinnen und viele Sozialwissenschaftler hören es nicht gerne, aber zahlreiche Studien belegen: Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der kognitiven Leistungsfähigkeit – und bei einigen Subfacetten der Intelligenz sogar dramatische Unterschiede. Das gilt insbesondere für die räumliche Orientierung, also für die Fähigkeit, sich gedanklich in zwei- oder dreidimensionalen Räumen zu bewegen. Das ist unter anderem in vielen naturwissenschaftlichen Berufen gefragt. Da sind Männer deutlich besser als Frauen. Diese Unterschiede haben vermutlich auch nicht nur etwas mit der Sozialisation zu tun, lassen sich also nicht einfach wegtrainieren. Umgekehrt schneiden Frauen bei anderen Subfacetten besser ab, etwa bei der Wahrnehmungsgeschwindigkeit oder den verbalen Fähigkeiten.“

Der Begriff „Intelligenz“ ist in der Psychologie ein Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Aber es gibt keinen Konsens, welche Fähigkeiten sie überhaupt umfasst. Und noch viel weniger einig ist sich die Fachwelt über die Frage, wie man die verschiedenen Fähigkeiten gewichten soll. In gewisser Weise ist Intelligenz ein schillerndes Konstrukt von findigen Testpsychologen: Aufgrund der unterschiedlichen Begabungen von Mann und Frau kann man jederzeit das eine oder das andere Geschlecht „intelligenter“ erscheinen lassen – je nach Zusammensetzung der Testaufgaben. Es gibt, wie bereits festgehalten, sowohl kognitive Aufgaben, bei denen Männer im Durchschnitt besser abschneiden, als auch solche, bei denen Frauen besser performen: Männer vornehmlich bei Aufgaben, die das räumliche Denken betreffen, Frauen bei sprachbezogenen. Beide Gruppen erreichen bei Intelligenztests in etwa die gleichen Mittelwerte durch ein symmetrisches Abfragen beider Denkleistungen.

Auch wenn die verschiedenen kognitiven Begabungen sich ausgleichen: Die Varianz in den IQ-Werten dürfte bei Männern größer sein als bei Frauen. Das heißt, es gibt sowohl mehr hochbegabte als auch mehr schwach begabte Männer als Frauen. Die weiblichen Testergebnisse liegen insgesamt näher beim Durchschnitt, ohne große Ausreißer. Die Psychologin Susan Pinker betont das in ihrem Buch Das Geschlechterparadox: Über begabte Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen. Männer sind extremer in körperlicher wie geistiger Hinsicht. Ob es um Inselbegabte, Menschen mit extrem hohen IQ, Nobelpreisträger, Schachgenies oder musikalische Wunderkinder geht: in allen diesen Fällen dominiert klar das männliche Geschlecht. Bei den geistig Behinderten, Schwererziehbaren, Schulversagern, Unruhigen und Straftätern aber auch. Auch dieser Faktor könnte beim Wiener Medizintest eine Rolle gespielt haben: die hochbegabten Männer gaben vielleicht den Ausschlag für das asymmetrische Ergebnis, die wenigen hochbegabten Frauen konnten das nicht ausgleichen. Durchaus denkbar, dass auch beim Wiener Test die durchschnittliche Leistung beider Gruppen identisch war. Das wurde nie bekannt und möglicherweise gar nicht untersucht.

Eine provokante Studie veröffentlichten Dimitri van der Linden und seine Mitarbeitern von der Erasmus Universität in Rotterdam im Jahr 2017: sie verwendeten Magnet-Resonanz-Bilder (MRI) von 900 Testpersonen und verglichen die Gehirnstruktur mit der gemessenen Intelligenz. Die Forscher fanden heraus, dass bei beiden Geschlechtern das Gehirnvolumen mit dem IQ korreliert. Das heißt: je größer das Gehirn, umso höher die Intelligenz. Sie fanden auch eine Korrelation mit der grauen und der weißen Substanz: je mehr, desto besser. Männer hatten (wie in allen anderen Studien) größere Gehirne, nicht nur absolut, sondern auch relativ zur Körpergröße. Und sie zeigten einen um eine 1/4 Standardabweichung höheren IQ. Verschiedene statistische Analysen kamen alle zum Ergebnis, dass der größere IQ bei Männern mit dem größeren Gehirn und da besonders mit der größeren grauen Substanz zusammenhängt.

Damit bestätigen sie die von Richard Lynn, Professor der Psychologie der Universität Ulster, seit 1994 vorgebrachte Hypothese, die er 2008 mit neuen Daten wiederholte: Männer haben größere Gehirne, deswegen ist ihr IQ um etwa vier Punkte höher. Der Unterschied beginnt ungefähr ab dem 14. Lebensjahr, weil Mädchen vorher reifen, können sie den Unterschied ein paar Jahre wettmachen. Lynn beschreibt einen kleinen Vorteil für Buben und einen großen Vorteil für erwachsene Männer bei den arithmetischen IQ Subtests. Bei der Testung der Gedächtnisspanne haben die Mädchen einen kleinen Vorteil, der sich bei Erwachsenen dann zu den Männern hin verlagert. Über 2.700 Kinder zwischen 12 und 18 Jahren wurden von Lynn mit dem Ravens Matrizentest, bei dem es um Mustererfassung geht, getestet: Mit 12 Jahren waren die Mädchen in allen Dimensionen besser, mit 14 erzielten die Kinder die gleichen Ergebnisse und mit 17 waren die Jungs besser.

Der heikle Diskurs über das Thema Intelligenz wurde ab 1990 erfrischend facettenreicher. Da führten die Psychologen John D. Mayer von der University of New Hampshire und Peter Salovey von der Yale University den Terminus Emotionale Intelligenz in die wissenschaftliche Diskussion ein. Darunter verstehen sie die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle – korrekt – wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen. Zur Popularisierung des Begriffs hat insbesondere der US-amerikanische Journalist Daniel Goleman mit seinem Buch Emotionale Intelligenz beigetragen. Hauptmerkmal ist hierbei das Einfühlungsvermögen (Empathie – siehe Kapitel 4). Als weiterer Begriff wird immer wieder die Soziale Intelligenz – oder auch Sozialkompetenz – genannt. Darunter versteht man einen Komplex von Fähigkeiten, die dazu dienen, sich in Gruppen richtig zu bewegen. Soziale Kompetenz war bis in die 1950er Jahre ein Kriterium zur Beurteilung von geistiger Behinderung, gleichrangig zur Intelligenz. In der Tat reicht es nicht, Zahlen schnell zusammenzurechnen und abstrakte dreidimensionale Gegenstände im Kopf rotieren zu lassen, um in der menschlichen Gesellschaft zu reüssieren. Beide Dimensionen wären eine wichtige Ergänzung. Aber der klassische Intelligenzquotient – ohne die emotionale und soziale Dimension – hat sich in den westlichen Industrieländern ab 1960 als Alleinstellungsmerkmal fast durchgesetzt.

Die Frage, welches Geschlecht nun mehr Intelligenz besitzt, offenbart nach all dem Gesagten einen gewissen Mangel derselben. Wenn Intelligenz heißt, ein Problem in seinem Gesamtkontext zu erfassen und mit den vorhandenen Ressourcen (inklusive Vernetzung mit der Umgebung) lebensnah zu managen, so sind sicherlich Frauen statistisch gesehen „intelligenter“. Wenn hingegen Intelligenz heißt, möglichst fokussiert ein Detailproblem abstrakt zu lösen und alles andere und alle anderen auszuklammern und wegzublenden, so sind wohl Männer „intelligenter“. Da aber Intelligenz ein Maß für die Lebenstüchtigkeit im Allgemeinen sein sollte, sind Männer und Frauen kognitiv sicherlich auf gleicher Augenhöhe. (…..)

Zwei Wege führen (gleich schnell) nach Rom

Die bahnbrechende Arbeit schlechthin bezüglich Hirnstruktur, Denkmuster und Intelligenz der Geschlechter ist Psychiater Richard J. Haier und Kollegen von der University of California in Irvine im Jahr 2005 gelungen. Die Studie ist zu Recht eine der meistzitierten in ihrem Gebiet. Sie untersucht die Beziehung zwischen Gehirnstruktur und allgemeiner Intelligenz bei Männern und Frauen mit gleichem IQ. Als Methode wählten Haier und sein Forscherteam eine sogenannte voxel-basierte morphometrische Analyse von MRI-Daten. Das klingt kompliziert, lässt sich aber einfach erklären: Die Forscher untersuchten präzise die Wechselbeziehungen zwischen den Größenunterschieden von Gehirngebieten und der Denkleistung. Die große Entdeckung war, dass Männer und Frauen gleiche Ergebnisse mit der Aktivierung verschiedener Hirnregionen erreichen. Also ganz nach dem Motto: Viele Wege führen nach Rom. Der eine führt über Villach, der andere über den Brenner. Gleiche Fahrzeit, gleich effizient, gleiches Ziel – aber verschiedene Strecken. Das bedeutet auch, dass für Intelligenz kein singuläres Hirngebiet zuständig ist und verschiedene Gehirn-Designs (also männliches und weibliches) die gleiche intellektuelle Performance möglich machen.

Die Ergebnisse von Richard J. Haier sind auch im Detail interessant: Beide – Frauen wie Männer – lösten die gestellten Aufgaben zu 65 Prozent mit der linken Gehirnhälfte. Aber Frauen zeigen dabei wesentlich mehr weiße und deutlich weniger graue Substanz, die mit Intelligenz in Zusammenhang steht. Das ist spannend! Denn: Die weiße Substanz besteht überwiegend aus Leitungsbahnen, also Nervenfasern. Sie verbindet die verschiedenen Gebiete der grauen Substanz, die wiederum Nervenzellkörper enthalten und Kerne beziehungsweise Kerngebiete darstellen. Das bedeutet also: Frauen denken viel stärker vernetzt und assoziativ. Männer bleiben eher auf die Problemlösung fokussiert. Im Gehirn agieren sie wie mit Scheuklappen und „schauen“ weder links noch rechts.

Tatsächlich fanden die Forscher bei Männern in Bezug auf die Gehirnsubstanz fast sieben mal mehr graue Substanz beiintelligenten Lösungen involviert, während Frauen neunmal mehr weiße Substanz verwendeten, um die gestellten Aufgaben zu lösen. Die manchmal bemühte Unterscheidung zwischen linearem Denken (das heißt vor allem graue Substanz) und assoziativem Denken (das heißt vor allem weiße Substanz, also Verbindungsfasern) ist aus neurowissenschaftlicher Sicht also absolut stimmig und richtig.

Aber Haier und seine Kollegen konnte noch etwas Bemerkenswertes entdecken: Männer scheinen sehr auf Analyse und abstrakte Problemlösung konzentriert zu sein. Das zeigt sich anhand der speziellen Hirngebiete, die mit der Intelligenz zusammenhängen. Bei ihnen war die Korrelation zwischen IQ und graue Substanz in den frontalen und parietalen Hirngebieten am stärksten, besonders in zwei Gebieten: einerseits im Wernicke’s Sprachzentrum (Area 39 und 40), das für das Sprachverständnis zuständig ist.Und andererseits im dorsolateralen präfrontalen Cortex (Areas BA 8 und 9), der vorwiegend kognitive Funktionen wie etwa problemlösendes Denken, Vorausplanen oder zielgerichtetes Handeln beinhaltet.

Frauen hingegen scheinen gestellte Aufgaben enger mit Emotionen zu verknüpfen, mit Assoziationen und Formulierungen. Bei ihnen waren die stärksten Korrelationen im Frontallappen in zwei Gebieten zu finden: einerseits im Broca Sprachzentrum, das für die Sprachbildung zuständig ist, und andererseits im des Orbitofrontalen Cortex (Area BA10), der mit Persönlichkeitseigenschaften und der Fähigkeit zur Emotionsregulation in Verbindung gebracht wird.

Dazu passen die letzten Ergebnisse der Studie von Haier und seinen Kollegen: Männer gehen eine Aufgabe eher distanzierter an, während Frauen sie tendenziell eher persönlich nehmen und auf sich beziehen. Das Frontalhirn beherbergt die Persönlichkeit – und dieses Hirngebiet ist bei Frauen viel mehr in Problemlösungen involviert. 84 Prozent der verwendeten grauen Substanz war bei Frauen im Frontalhirn lokalisiert, verglichen mit nur 45 Prozent bei Männern. Noch offensichtlicher war der Unterschied in der Verwendung der weißen Substanz im Frontalhirn: 86 Prozent der identifizierten weißen Substanz war bei Frauen im Frontalhirn, verglichen mit null Prozent bei den Männern! Eine Reihe von Arbeitsgruppen auf der ganzen Welt hat in der Folge – teilweise mit ganz anderer Methodik – die Resultate von Richard Haier bestätigt: Männer und Frauen greifen bei der Intelligenz tatsächlich auf verschiedene Hirnareale zurück (Allen et al, 2011; Tomasi et al, 2012; Ingalhalikar et al., 2014; Szalkai et al, 2015; Pezoulas et al, 2017).

Zweifellos sind die beiden Formen von Intelligenz kognitiv auf Augenhöhe. Wo sie gegeneinander ausgespielt werden und in Konkurrenz treten, folgt Disharmonie der Geschlechter, während sie sich in Harmonie gegenseitig ergänzen, befruchten und potenzieren. Dafür mag ein Begriff der chinesischen Philosophie ein gutes Bild sein: Yin und Yang. Sie stehen für polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene Prinzipien. Yin für weiblich und Yang für männlich. Alleine unvollkommen, zu zweit komplett. Die beiden sind nach chinesischer Tradition nicht gegensätzlich (antagonistisch), sondern sie ergänzen sich (komplementär).

Wir finden also zwei Arten vor, die Welt zu erfassen und zu verarbeiten: Zwei Augen, die sich ausgezeichnet ergänzen und nur zusammen dreidimensional sehen. Dafür ist sowohl das Yin-Auge als auch das Yang-Auge unentbehrlich. Der jeweilige Blickwinkel ist für das räumliche Sehen unersetzlich. Eine theoretische Verringerung des Augenabstands hätte kein besseres, sondern ein flacheres Bild zur Folge.

Aus: Raphael M. Bonelli, Frauen brauchen Männer und umgekehrt – Couchgeschichten eines Wiener Psychiaters, Kösel-Verlag, München, 349 Seiten, hier Seiten 108-110 und 112-120.

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