Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland sind in psychotherapeutischer Behandlung. Innerhalb von elf Jahren hat sich die Zahl der jungen Patientinnen und Patienten mehr als verdoppelt. Das geht aus dem aktuellen Arztreport der BARMER hervor, der heute in Berlin vorgestellt wurde. Demnach benötigten im Jahr 2019 rund 823.000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe, 104 Prozent mehr als im Jahr 2009. Die Corona-Pandemie samt strikter Kontaktbeschränkungen dürfte dabei die Situation noch ein Stück weit verschärfen. Bei BARMER-versicherten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis einschließlich 24 Jahren stiegen die Zahlen für die Akutbehandlung sowie die Anträge etwa für die erstmalige Therapie und deren mögliche Verlängerung in 2020 um sechs Prozent auf mehr als 44.000 im Vergleich zum Vorjahr. „Psychische Probleme können für Kinder und Jugendliche ernste Folgen haben. Deshalb ist es wichtig, auf ihre Alarmsignale zu achten. Zeitnahe Hilfe und Prävention können viel dazu beitragen, dass psychische Probleme erst gar nicht entstehen oder sich verstetigen und zu einer psychischen Erkrankung führen“, sagt Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der BARMER.

Inanspruchnahme regional teilweise um bis zu 239 Prozent gestiegen

Wie aus dem Arztreport weiter hervorgeht, gibt es deutliche regionale Unterschiede bei der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen. Am größten war im Jahr 2019 demnach der Bedarf in Berlin mit 5,19 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Hessen. Den geringsten Anteil verzeichnete Mecklenburg-Vorpommern mit 3,33 Prozent aller jungen Menschen. Allerdings war hier die Steigerungsrate bei der Inanspruchnahme seit dem Jahr 2009 mit 239 Prozent am größten, gefolgt von Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Die niedrigste Steigerungsrate verzeichnete Bremen mit 52 Prozent. „Psychotherapeutische Leistungen für Kinder und Jugendliche nehmen in allen Bundesländern immer mehr zu. Hier gibt es vor allem in den Bundesländern hohe Steigerungsraten, in denen der Abstand zum Bundesschnitt besonders groß war“, sagt Prof. Dr. Joachim Szecsenyi, Autor des Arztreports und Geschäftsführer des aQua-Instituts in Göttingen. Damit seien die regionalen Unterschiede bei der Inanspruchnahme bis zum Jahr 2019 zwar verringert, aber nach wie vor erheblich und rein medizinisch nicht erklärbar. Hier seien weitere Analysen erforderlich.

Gezielte Hilfen für betroffene Kinder

Eltern, Bezugspersonen, Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sowie ärztliche und psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssen im Sinne der betroffenen Kinder und Jugendlichen möglichst eng zusammenarbeiten, so BARMER-Chef Straub. Eine enge Kooperation sei während der Corona-Pandemie wichtiger denn je. Gerade jetzt seien die Kinder und Jugendlichen stark psychisch belastet. „Die Corona-Pandemie hinterlässt besonders bei den jungen Menschen Spuren, die ohnehin schon psychisch angeschlagen sind. Hier ist eine schnelle und unkomplizierte Hilfe besonders wichtig“, sagt Straub. Die BARMER biete dies zum Beispiel über ihr Kinder- und Jugend-Programm (KJP), bei dem derzeit fast 580.000 Kinder und Jugendliche eingeschrieben seien. Das KJP beinhalte mehrere Extra-Vorsorgeuntersuchungen, die weit über den Leistungen der Regelversorgung lägen. Die teilnehmenden Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte achteten gezielt auf psychische Auffälligkeiten der jungen Menschen. Zudem unterstütze die BARMER das Online-Angebot krisenchat.de für Menschen bis 25 Jahren. Bei psychischen Problemen, etwa durch Cybermobbing, könnten sie sich unkompliziert und anonym an geschulte Psychologinnen und Psychologen wenden.   

Mobbing als eine von mehreren Ursachen für Psychotherapie

Die Angebote der BARMER sollten dazu beitragen, dass sich psychische Probleme nicht verfestigten, so der BARMER-Vorstandsvorsitzende weiter. Gleichwohl sei eine Therapie nicht immer vermeidbar. Den Ergebnissen des Arztreports zufolge hätten im Jahr 2019 rund 162.300 Kinder und Jugendliche erstmals eine Richtlinientherapie erhalten. Die Ursachen dafür seien sehr unterschiedlich. In knapp 37.400 Fällen seien Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen ausschlaggebend. Dafür gebe es viele Ursachen, angefangen von Trauererlebnissen bis hin zum Mobbing. „Junge Menschen sind heutzutage vielen Belastungen ausgesetzt, die der Psyche zusetzen können. Bis zu welchen Grad einzelne Faktoren wie Mobbing eine Rolle spielen, lässt sich aber nicht genau bemessen“, sagt Szecsenyi. Die zweithäufigste Ursache für eine erstmalige Therapie seien im Jahr 2019 Depressionen, und zwar in rund 23.100 Fällen gewesen, gefolgt von emotionalen Störungen im Kindesalter in gut 22.000 Fällen.

Professionelle Hilfe, um jahrelanges Leiden zu vermeiden

Viele junge Menschen leiden den Ergebnissen des Reports zufolge über Jahre an psychischen Störungen. Dies belegt eine Langzeitbetrachtung von Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 2014 erstmals eine Psychotherapie erhalten haben und mindestens zwei Jahre zuvor keine anderweitige therapeutische Hilfe benötigten. So wurde bei mehr als jedem oder jeder dritten Betroffenen bereits fünf Jahre vor Start der Richtlinientherapie zumindest eine psychische Störung dokumentiert. Nur bei 40,7 Prozent beschränkten sich die Psychotherapiesitzungen auf maximal ein Jahr, 36,4 Prozent erhielten auch mehr als zwei Jahre nach Start der Behandlung noch Psychotherapien. „Die Betroffenen dürfen von einer Psychotherapie keine Wunder erwarten. Sie ist ein steiniger und beschwerlicher Weg. Je früher die Kinder und Jugendlichen aber professionelle Hilfe bekommen, desto größer ist die Chance auf einen minder schweren Verlauf“, so BARMER-Chef Straub. Schließlich werde die Behandlung schwieriger und langwieriger, sollten sich die Probleme chronifiziert haben. So seien zum Beispiel bei 62,5 Prozent aller Betroffenen auch noch fünf Jahre nach Start der Psychotherapie psychische Störungen diagnostiziert worden.

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